Eine neue Presse im Iran?

■ Seit der Wahl des Staatspräsidenten Chatami im Mai des vergangenen Jahres findet sich in Zeitungen und Zeitschriften im Iran eine große Bandbreite an Meinungen und Positionen zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Doch die Schere zwischen Tradition und Moderne, Religion und Politik, Isolationismus und Öffnung gen Westen klafft auch weiterhin auseinander. Die Texte auf diesen Seiten, alle in iranischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen, dokumentieren die Probleme der Presse im gesellschaftliche Umbruch.

Iranische Zeitungen vertreten heute eine große Bandbreite an Positionen zu vielen verschiedenen Themen. Deshalb fällt es nicht leicht, die Einstellung einer Zeitung in nur einem Stichwort zu umreißen. Es gibt keine bestimmten „Themenpakete“, für die eine Zeitung umfassend Partei ergreifen würde.

Wirtschaftlich kann eine Zeitung beispielsweise in verschiedenen Abstufungen für den freien Markt (Ettela'at) oder staatliche Planung eintreten (Salam); außenpolitisch gibt es eine isolationistische, antiwestliche Position (Jomhuri-ye Eslami) oder die der Verbesserung der außenpolitischen Beziehungen (Iran); in sozialen Fragen reicht das Spektrum von restriktiven Positionen (Kayhan) bis zur Unterstützung einer neuen gesellschaftlichen Öffnung (Hamshari); und die politischen Sympathien reichen von einer extremen Pro-Chatami-Haltung (Jameah) bis zu einer ebenso extremen Anti-Chatami-Haltung (Resalat). Wirklich wichtig und neu in der heutigen iranischen Presselandschaft ist jedoch die Zunahme neuer Ideen und die uneingeschränkte Behandlung von Themen.

Für den uneingeweihten Leser haben wir eine Liste zusammengestellt, die die wichtigsten persischsprachigen Tageszeitungen des Irans aufführt, und zwar in der Reihenfolge ihres Verhältnisses zur Pressefreiheit. Entsprechend dem Grad ihrer Selbstverpflichtung zu mehr Pluralismus ordneten wir sie auf einer Skala von 1 bis 12 an, wobei 1 die beste und 12 die schlechteste Bewertung darstellt. Die Zeitungen auf den Plätzen 1 bis 7 gehören eindeutig zu denen, die eine größere Freiheit der Meinungsäußerung befürworten und damit zweifellos jenen Teil der Bevölkerung repräsentieren, der drei zu eins für Präsident Mohammad Chatami gestimmt hat.

1. Jameah (Gesellschaft); 2. Salam (Hallo); 3. Iran; 4. Hamshahri (Mitbürger); 5. Kar va Kargar (Arbeit und Arbeiter); 6. Ettela'at (Information); 7. Akhbar (Nachrichten); 8. Abrar (Der Gläubige); 9. Farda (Morgen); 10. Jomhuri-ye Eslami (Islamische Republik); 11. Resalat (Mission); 12. Kayhan (Welt).

Daneben gibt es im Iran eine wachsende Anzahl von Wochen- und Monatszeitungen sowie unregelmäßige Publikationen. Diese haben zwar eine wesentlich geringere Auflage als die Tageszeitungen, dafür können sie bestimmte Themen ausführlicher diskutieren. Erwähnenswert darunter sind insbesondere die Zeitschriften Kiyan, die regelmäßig Texte von Abdolkarim Sorush publiziert, Iran-e Farda, die mit der früher von Bazargan und jetzt von Yazdi angeführten Freiheitsbewegung sympathisiert, und die neue Frauenzeitschrift Zan.

Die Texte auf diesen Seiten stammen aus diesen Zeitungen und Zeitschriften.

Die Macht der Feder

Heute präsentieren wir unseren verehrten Lesern die 50. Ausgabe unserer Zeitung. Seit dem 5. Februar 1998 [der ersten Ausgabe] durchlief Jameah viele Höhen und Tiefen. Im großen und ganzen, und angesichts der beispiellosen Begeisterung seitens unserer Leser und weiter politischer und gesellschaftlicher Kreise unseres Landes, haben diese Höhen und Tiefen die Mitarbeiter von Jameah sowohl mit Stolz erfüllt als auch ihr Verantwortungsbewußtsein gestärkt. Denn dies ist natürlich nur der Anfang des Weges: eines schwierigen, aber auch zuversichtlich machenden Weges, eines Weges mit vielen Kurven und Kreuzungen, der uns am Ende stärken wird – ein Weg, der noch von niemandem begangen wurde, aber auch keiner, der ins Nirgendwo führte.

Wir erheben nicht den Anspruch, diesen Weg perfekt zu beschreiten, immer alles richtig zu machen oder immun gegen Fehler und Irrtümer zu sein. Gelassen und zuversichtlich teilen wir alles, was um uns herum geschieht, mit unserer Leserschaft und stärken damit die Brücke des Vertrauens, die auf diesem Weg errichtet wurde.

In den letzten Wochen erreichten uns viele Fragen zu einigen unserer Artikel. Besonders die Zunahme von Texten, in denen vorangegangene Artikel kritisiert werden, hat sehr verschiedene Reaktionen ausgelöst. Eine Gruppe von Lesern meint, daß die Mitarbeiter von Jameah, besonders die Chefredaktion, damit auf Druck von oben reagierten. Andere sind der Ansicht, dies sei eine neue Methode von Jameah, jedem Druck von oben möglichst geschickt zuvorzukommen. Wir sagen dazu klar und deutlich, daß dies der natürliche Kurs einer Zeitung ist, die für eine Kultur eintritt, in der verschiedene Standpunkte und Tendenzen akzeptiert werden. Die Mitarbeiter von Jameah halten diese Praxis deshalb für ein gutes Beispiel für die ganze Nation.

Als Ausdruck für die Ernsthaftigkeit ihrer Verpflichtung und für ihre neuen Leser veröffentlicht Jameah in dieser 50. Ausgabe deshalb noch einmal ihre 10 Grundsätze.

Wir gehen davon aus, daß sich die verehrten Leser von Jameah – die ihre wahren Eigentümer sind – ihre kluge Wachsamkeit bei der aufmerksamen Beobachtung ihrer Zeitung auch weiterhin erhalten werden. Jameah denkt an die Zukunft.

„Durch die Macht der Feder will die Zeitung Jameah, deren erste Ausgabe vor Ihnen liegt – durch die Gnade Gottes und angesichts sowohl der vielversprechenden Zeiten, die wir erleben, als auch im Licht ihrer journalistischen Verantwortung –, sich um die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft im Iran bemühen.

Die bürgerliche Gesellschaft ist das Modell einer Form kollektiven Lebens, das heute in vielen hochentwickelten Gesellschaften existiert und das für jede Nation, die sich dafür entscheidet, von unschätzbarem Nutzen ist.

Trotz unterschiedlicher Ansichten über seine Ursprünge, seine wichtigsten Vertreter oder das ideale Umfeld für seine Geburt, hat sich dieses Modell von einer zunächst auf Theoretiker und Intellektuelle beschränkten Idee seit dem 23. Mai 1997 durch den neuen Präsidenten Chatami [Tag der Wahl, an dem Chatami an die Macht kam. Anm. d. Red.] zu etwas entwickelt, das auf nationaler Ebene diskutiert werden konnte und sehr schnell zu einem nahezu kollektiven Wunsch in unserem Lande wurde. Kurz gesagt, bedeutet bürgerliche Gesellschaft die offizielle Anerkennung der Rechte der Bürger und die Höherbewertung dieser Rechte gegenüber ihren Verpflichtungen innerhalb einer bestimmten staatlichen Grundstruktur – die heutzutage trotz der Existenz eines nationalen Abkommens [d. h. die Verfassung] und obwohl 19 Jahre seit der Islamischen Revolution vergangen sind, zu einseitig zugunsten des Staates und der Regierung interpretiert worden ist.

Dieses Modell in einer Gesellschaft mit den Merkmalen der iranischen Gesellschaft zu realisieren, ist zweifellos keine leichte Aufgabe. Doch die Massenmedien, insbesondere die Druckpresse, können eine Rolle dabei spielen, die öffentliche Kultur in Richtung einer idealen Gesellschaft zu führen und dabei gleichzeitig die nationale und religiöse Identität der Bürger zu wahren.

Jameah ist das erste Presseerzeugnis, das auf dem Konzept der bürgerlichen Gesellschaft beruht. Wir sehen eine Zukunft, in der die Presse die ihr angemessene Rolle spielt und – in einer mutigen und stolzen Gesellschaft – ihren wahren Rang einnimmt: den des vierten Standes.

Die Prinzipien, die wir der Aufmerksamkeit unserer verehrten Leser anempfehlen und hier offen vorlegen, sind im Grunde die Gründungsurkunde eines neuen journalistischen Unternehmens.

„1. Jameah ist eine professionelle Zeitung, bestrebt, ihre Pflicht im Rahmen des Pressegesetzes zu erfüllen und eine ehrliche Berichterstattung, ohne Bewertung oder Vorurteil, zu respektieren.

2. Jameah wird alle Artikel namentlich kennzeichnen. Dies geschieht aus Achtung vor der Arbeit der Urheber und im Sinne eines verantwortlichen und selbstbewußten Journalismus. Es werden keine Artikel, Berichte oder Fotografien ohne die Namen ihrer Urheber veröffentlicht.

3. Jameah benutzt zur Kenntlichmachung ihrer in- und ausländischen Nachrichtenquellen Abkürzungen. Das Zeichen (...) wird in Jameah benutzt, um anzuzeigen, daß etwas aus verschiedenen Gründen – einschließlich Platzmangels – nicht veröffentlicht werden kann.

4. Jameah wird im Rahmen ihrer journalistischen Aufgabe und so gut sie kann die politische, kulturelle und gesellschaftliche Landschaft des Iran reflektieren, indem sie gesellschaftliche Aktionen und Reaktionen transparenter macht; keine Institution, Bevölkerungsgruppe und kein Phänomen werden davon ausgenommen.

5. Jameah respektiert alle Institutionen, Parteien, Vereine und gesellschaftlichen Gruppen – aus dem modernen und wie dem traditionellen Bereich – und ist bestrebt, den konstruktiven Dialog und die vorurteilsfreie Diskussion zwischen beiden zu fördern. Hiermit lädt Jameah alle Institutionen und Parteien, alle Vereine und ethnischen bzw. kulturellen Gruppierungen – die die Verfassung offiziell anerkennen – dazu ein, in Kolumnen, die Jameah speziell dafür einrichten wird, ihre Auffassung zu allen das Land bewegenden Fragen und zur Tagespolitik zu vertreten. Das bedeutet nicht, daß Jameah diesen Standpunkten zustimmt; doch Jameah ist dem Prinzip verpflichtet, verschiedene Auffassungen zu präsentieren und einander gegenüberzustellen. Diese Kolumnen stehen daher allen gesellschaftlichen Kräften des Landes zur Verfügung. Soweit es Jameah betrifft, sollte sich keine Gruppe und keine Vereinigung von dieser Möglichkeit ausgeschlossen fühlen.

6. Jameah wird die Benutzung aller überflüssigen Titel und Ehrenbezeichnungen für Staatsbeamte vermeiden und sich auf ihre Namen und Zuständigkeiten beschränken. Bei religiösen Personen, die keinen Verwaltungs- oder anderen öffentlichen Posten bekleiden, wird sich Jameah an den bei den Klerikern üblichen Titel halten; bei religiösen Personen, die ein öffentliches Amt bekleiden, wird lediglich ihr administrativer Titel genannt. Lediglich der Führer der Islamischen Republik ist von dieser Regelung ausgenommen.

7. Jameah bemüht sich um Professionalisierung in allen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen. Deshalb werden in allen Ressorts zusätzlich zur Berichterstattung oder bei der Diskussion von Themen nationaler Bedeutung immer wieder Spezialisten der jeweiligen Fachgebiete zu Wort kommen.

8. Jameah wird unabhängige und wissenschaftlich abgesicherte Meinungsumfragen in Auftrag geben, um die Veränderungen und Entwicklungen der öffentlichen Meinung in bezug auf innen- und außenpolitische Ereignisse zu verstehen und zu reflektieren; sie wird deren Ergebnisse der Nation und der Regierung zur Verfügung stellen.

9. Jameah wird Analysen und Reportagen besondere Aufmerksamkeit schenken und dabei auch eine bildhafte Sprache, Karikaturen usw. einsetzen, um die iranische Presse internationalem Niveau ein Stück näherzubringen.

10. Jameah wird sich durch die sorgfältige Überprüfung der Praxis der offiziellen Institutionen des Landes [die laut Verfassung haftbar sind, Anm. d. Red.] und die kritische Erörterung sozialer Probleme für den Schutz von Menschen- und allgemeinen Freiheitsrechten einsetzen und damit den „Vierten Stand“ wiederbeleben – als bürgerliche Institution und in seiner Rolle als kritischer Leitfaden und Unterstütung für die Regierung.

Jameah ist davon überzeugt, daß dieses 10-Punkte-Programm den Weg für eine Veränderung der iranischen Presse ebnen kann. Der endgültige Erfolg der Zeitung hängt allerdings von der Einsicht ab, daß die Existenz einer großen, lebendigen, mutigen und kritischen Zeitung in der islamischen Gesellschaft des Iran, die die Unruhen und Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Landschaft reflektiert, auch zur Stabilisierung eines starken politischen Systems beitragen und das Eindringen aller verhindern kann, die ihr gieriges Auge auf dieses heilige Land geworfen haben.

Jameah möchte jedem einzelnen Leser die Hand schütteln und steht der Gesellschaft in aller Bescheidenheit ab heute zu Diensten.“

Mashallah Shamsolvaezin

Editorial der iranischen Tageszeitung Jameah vom 18. April 1998. Anfang August wurde Jameah die Lizenz entzogen. Die Redaktion gibt derzeit statt dessen die Zeitung Tus heraus.