Nach Spanien? Ach was!

Es gibt eine Alternative zum Umzug in den Speckgürtel: Fast 100.000 Berliner haben in einer Datsche ein zweites, wild wucherndes Zuhause gefunden  ■ Von Jeannette Goddar

„Sonst“, sagt Edgar Thomas, „sonst würde ich schon mal nach Spanien fahren oder so.“ Das würde vielleicht auch gehen und wäre vielleicht „ja mal was anderes“. Es geht aber nicht. Schließlich hat Edgar Thomas eine „handfeste Bindung“ in Berlin, und das schon seit 25 Jahren. Deshalb hat er „gar keine Zeit, um wegzufahren“. „Eine Woche“, sagt er, „das ist das höchste der Gefühle.“ Und dafür lohnt die Reise nach Spanien nicht. Und selbst nach einer Woche wartet schon wieder so viel Arbeit auf ihn.

Edgar Thomas hat einen Garten. „Den kann man nicht so einfach alleine lassen.“ Der braucht jede freie Minute. Kleingärtner sein ist schließlich nicht irgendein Hobby. In seiner Laube in Berlin- Charlottenburg verbringt Edgar Thomas seine Abende, seine Wochenenden, die Feiertage. Die Laube, erzählt er, sei wie sein Zuhause. „Wenn ich die nicht hätte, wäre ich schon längst aus Berlin weggezogen.“

Es gibt eine Alternative zum Umzug in den Speckgürtel. Fast 100.000 Berliner kompensieren das Leben in der Mietskaserne inmitten einer Vier-Millionen-Stadt damit, ihre Freizeit auf einem winzigen Stück Natur inmitten von lauter Gleichgesinnten zu verbringen. Viele von ihnen flüchten aber nicht nur ins Grüne, sondern – weil sie ja sonst nie wegfahren –, auch in die Fremde: sie fahren nach „Klein Afrika“, „Nordpol“ oder eben nur nach „Amstelveen“. Andere flüchten sich nach „Einkehr“ oder „Gemütlichkeit“. Dort treffen sie auf behelfsmäßige Bretterbuden oder auf eine noble Parzelle. Die Geschmäcker sind zumindest in Detail und Ausstattung verschieden.

Erstaunlich ähnlich sind sich hingegen die Reglements, die die Parzellenbesitzer in ihrer zweiten Heimat erwarten: Man darf in der Datsche zwar zur Ruhe kommen, aber nicht übernachten, feiern, nicht die Nachbarn stören, zwar Pflanzen anbauen, aber nur die richtigen. Die ungeschriebenen Regeln der Sandburgenbuddler auf den Ostfriesischen Inseln sind nichts gegen die geschriebenen der Kleingartenkolonisten. Kommentarlos werden Anschläge am Schwarzen Brett hingenommen, die ankündigen, „unordentliche und unsaubere Gärten aufzuspüren“, und auffordern, überhöhte Hecken zu „reduzieren“.

Schrebergärten gehören zu Berlin wie eben die Sandburgen auf die Ostfriesischen Inseln: 1833 wurde mit den „Armengärten“ auf die Industrialisierung reagiert. Auf kleinen Flecken am Stadtrand bauten vor allem Arbeiter und Handwerker Kartoffeln und Obst an und entlasteten so die städtische Armenkasse. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts steckten Obdachlose kleine Gärten rund um das Kottbusser Tor ab. Auch in Treptow, Neukölln und im Grunewald entstanden die ersten Großkolonien. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten die Parzellen als Ersatzwohnstätten.

Ihre wahre Blütezeit erlebte die Datsche allerdings erst in der DDR. Mit Hilfe staatlicher Förderung wurden bis zum Mauerfall zweieinhalb Millionen Menschen mit einem eigenen Stück Land versorgt. Wer Erdbeeren erntet, revoltiert nicht. Eineinhalb Millionen DDR-Bürger waren im „Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter“ organisiert. Wo früher die Armen Kartoffeln klaubten oder DDR- Bürger vergessen konnten, wohin sie überall nicht reisen durften, waltet heute der mittelständische Hobbygärtner seines Amtes. Organisiert ist auch dieser.

Im Bezirks-, im Landes- und im Bundesverband der Kleingärtner kämpfen die Parzellisten um den Erhalt ihrer Parzellen. Einer von ihnen, Werner Langer, gründete vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 1995 sogar die „Wählerinitiative der Berliner Kleingärtner und Bürger“. Schließlich gibt es genug Gründe zu kämpfen: Auf dem ehemaligen Gebiet der DDR ist die Zahl der Datschenbesitzer in den letzten fünf Jahren von 2,6 auf 1,9 Millionen gesunken. Steigende Pachtzinsen, Zweitwohnungssteuer oder eine geplante Zugverbindung machen in jedem Jahr Hunderten von Kleingärtnern den Garaus.

In Berlin-Charlottenburg kämpfen alteingesessene Kleingärtner seit Jahren Seite an Seite mit den Grünen und dem Bund für Umwelt und Naturschutz gegen den Bau des Transrapids sowie gegen den geplanten Spreedurchstich für eine Wasserstraße von Hannover nach Berlin. Die Besitzer von 106 Parzellen der Kolonie „Bleibtreu“ mußten im vergangenen Jahr bereits weichen.

Wenn Edgar Thomas, der als Vorsitzender des Bezirksverbandes Charlottenburg längst zu den engagiertesten Kleingärtnern gehört, daran zurückdenkt, ist ihm die Betroffenheit immer noch anzumerken. Eine wahre „Schocksituation“ sei das gewesen, erzählt er. „Da hat man 20 Jahre lang ein Stück Natur betreut, hat hier den ersten Apfelbaum gepflanzt, und dann wird es einem weggenommen.“ Nicht wenige der Leute seien richtiggehend verzweifelt gewesen. „Aber wie verwurzelt wir mit unserem Grund und Boden sind, das kann sich jemand, der in einer Mietwohnung wohnt, gar nicht vorstellen.“