Die Folklore von Folterern

Mit seinen gezeichneten Filmepen war William Kentridge Gast der letzten documenta. Jetzt werden die Arbeiten, bei denen es um südafrikanische Identität und Wahrheitsfindung geht, in München gezeigt  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

An manchen Tagen wünscht man sich eine Formel, um Reichtum und Armut, Liebe und Haß, Raum und Zeit zu erklären. Entweder wäre die Formel einfach, dann würde sie beschreiben, „wie es ist“. Oder sie wäre komplex, dann würde sie definieren, „wie das funktioniert“. Jemand wie der südafrikanische Zeichner, Theatermann und Filmemacher William Kentridge versucht, die Formel an beiden Enden zu packen, weshalb beim Besucher seiner Ausstellung im Münchener Kunstverein das eigentümliche Gefühl zurückbleibt, Subjekt und Objekt zweier unvergleichlicher Erfahrungen geworden zu sein.

Der erste Eindruck ist, daß man in einem Archiv zu Gast sei, mit sechs Fernsehern und Holzbänken, gegenläufig aufgestellt, und plakatgroßen Zeichnungen an den Wänden des großen Saals. Tatsächlich könnte jede der Bilderzählungen, die von Laserplatten nahtlos abgespielt werden, eine raumgroße Installation darstellen. Aber es sei nicht leicht, sagt Dirk Snauwaert, der belgische Direktor des Kunstvereins, ein Museum in ein Kino umzubauen. Obwohl er mit der bürgerlichen Kunst so sehr auf Kriegsfuß steht, daß er das ohne Zweifel gerne wollte.

You are entering a world of pain, wie der falsche Jude in „The Big Lebowski“ sagt, und die Kentridge-Filme haben etwas von dieser Theatralik des Schmerzes sowie von der untergründigen Komik der Drohung. Nachdem ich herausgefunden habe, daß man die Filme der Reihe nach sehen muß, nämlich in der Chronologie ihrer Entstehung von 1989 bis 1998, fand ich darin eine einzige Geschichte mit drei Charakteren. Die zentrale Figur: Soho Eckstein, der sich die ganze Welt kauft, sie aber schließlich flutet, sprengt und ausradiert, um das Liebesnest zu vernichten, in dem sich seine Frau versteckt hält. Die zweite Figur ist Mrs. Eckstein, die nichts zu tun hat. Die dritte Figur: Felix Teitlebaum, der Künstler und gelegentliche Liebhaber von Mrs. Eckstein.

Es handelt sich allerdings nicht um klassische Animationsfilme, sondern um dicht gestrickte, tastende Epen von fünf bis acht Minuten Dauer. Das Tastende liegt in der Arbeitsmethode des Künstlers, dem eine Kohlezeichnung als Ausgangsbasis der Geschichte dient. Für die folgenden Sequenzen zeichnet er keine neuen Bilder, sondern verändert das eine, das er schon hat. Daraus ergeben sich eigentümliche Effekte, wie nebelartig wandernde Wolken oder daß eine reglose Gruppe von Figuren in Erscheinung tritt (Kamerafahrt über das gezeichnete Blatt), von denen eine plötzlich mit den Augen rollt (Veränderung der Zeichnung an dieser Stelle). Gerade das Materielle des Vorgangs, das Darüberzeichnen und Löschen, erscheint in der digitalen Wiedergabe als immateriell, wie von Geisterhand.

Wie der Zeichner selbst das erlebt, wird deutlich in „Felix in Exile“ (1994). Da sitzt der Künstler im Bett eines Hotelzimmers, öffnet seinen Koffer, und die Zeichnungen kommen heraus. Es sind keine konservierten Bilder, sondern lebende Blätter, Blicke in die Welt der Menschen und Dinge, von denen der Exilierte abgeschnitten ist. Das Prinzip der lebenden Bilder verlängert sich in die karge Stube, wenn beim Rasieren im Spiegel eine schwarze Astronomin erscheint, vom einsamen Künstler später gezeichnet als Badende in einem Teich (gegen die schwarze Bildlogik ist das Wasser immer blau): das Blatt, in dem sie sich bewegt, liegt ruhig auf seinem Bett. Im Geisterbild wird alles möglich, vorausgesetzt, daß es nicht sein kann.

Die Poesie von Wunsch und Angst liegt dabei eng beisammen. Die ersten Filme sind zeichnerisch noch nah am Agitprop, wenn Soho Eckstein vom Freßtisch aus die Geschäfte im Kohleschacht regelt, in dessen tiefstem Flöz die Köpfe von Enthaupteten wie in Warenregalen gelagert werden, quasi als Rendite des Todes. Wie alle anderen Filme ist auch dieser stumm, mit einem ironischen Einsatz von Musik zwischen mozartisierenden Phrasen und dem symphonischen Peitschen schwarzer Krimis.

Während man an den Sound der Monitore über Kopfhörer angeschlossen ist, schallen aus dem Hintergrund zwei andere Soundtracks. Sie stammen von großen Projektionen in verdunkelten Räumen. „Ubu Tells The Truth“ aus dem letzten Jahr ist unterlegt mit einem wüst gesampelten Soundtrack, der schwarze Straßenmusik einschließt. Alfred Jarrys Despotenstück vom König Ubu (1896) wird hier bezogen auf die Wahrheitskommission. Mit Kreide auf schwarzem Grund gezeichnet, gilt die Fabel einem belebten, aber vielleicht nicht beseelten Apparat mit fies geschwinden Stativbeinen – Kamera, Kanone, Radio und auf den Kopf gedreht ein Hubschrauber. Der Film persifliert das öffentliche und ferngesendete Geständnis der Täter in zweierlei Weise: er stellt Über-Kopf-Aufhängen, Erschießen und Aus-dem-Fenster- Stürzen als geringfügig dar; und indem Ubu, auch wenn er sich gelegentlich als dicker Mann verhüllt, eigentlich ein Apparat ist, kann es einen wirklich Schuldigen wohl nicht geben. Die Folter erscheint als eine Art bürokratische Folklore.

Kentridge weiß, wovon er spricht. Als Sproß einer Dynastie von Linksanwälten – geboren 1954 – war ihm schon „in der Schule klar, daß ungeheuerliche Dinge geschehen in einer abnormen Gesellschaft“. Seine künstlerische Tätigkeit führte ihn zu Bühnenprojekten – das Spiel mit lebensgroßen Puppen, unter anderen –, wo die Rassentrennung nicht stattfand, aber die Trennung der Medien auch nicht. Spiel, Bühnenbild und Projektion wurden eins.

Der Name Kentridge ist eine anglisierte Fassung von Kantorowitz – der Künstler stammt von osteuropäischen Juden ab. So meint die Figur Soho Eckstein den weißen Kapitalisten; Kentridge bewegt sich hart am Rande der antisemitischen Karikatur. Felix Teitlebaums Physis dagegen dient dem Selbstportrait, auch wenn die Abenteuer der Figur frei erfunden sind. Bemerkenswert ist, daß Eckstein in den ersten Filmen nur als Monster erscheint, dann aber, Jahre nach dem Ende der Apartheid, auch introspektiv beschrieben wird. Plötzlich ähnelt er seinem Rivalen Felix.

In der zweiten großen Projektion „History of The Main Complaint“, 1992, phantasiert Eckstein als Patient im Krankenhausbett eine Autofahrt – begleitet von einem Madrigal Monteverdis und vom Piepen des EKG. Dabei wird er zum Zeugen einer Szene, in der Soldaten einen Schwarzen krankenhausreif schlagen: Das Selbstbild überblendet sich mit dem des Opfers, so wie die Aufzeichnung des Ultraschalls sich in der Bewegung des Scheibenwischers wiederfindet.

William Kentridge gehört heute zu den exponiertesten Künstlern Südafrikas, und mit gutem Grund. Er ist künstlerisch zu Haus in der Volkskunst, schöpft aber stilistisch Zitate aus den westlichen Traditionen. Man denkt an die spinnenartigen Figurenzeichnungen Kafkas, an die WW I-Landschaften von Dix, an die Collagen Heartfields und die Comics von Art Spiegelman. Kentridge interessiert sich für politische Schuld, aber nur insofern, als sie Bilder freisetzt.

William Kentridge, bis 11.10., Kunstverein München. Englischsprachiger Katalog mit einem gründlichen Essay von Carolyn Christov-Bakargiev, Texten von William Kentridge und einer Dokumentation der Kritik, 49 DM