Der „Große Ploetz“, letzte Auflage in Buchform?

■ Die 32. Auflage des Standard-Nachschlagewerks für Historiker bietet gut lesbar und wohlgeordnet eine riesige Datenmenge. Aber die elektronische Konkurrenz wird übermächtig

Imposant steht das neue Prachtexemplar im Regal: die 32. Auflage des „Großen Ploetz – Enzyklopädie der Weltgeschichte“ ist heraus, und sie liegt gut in der Hand, so wohlig, so schwer. Da ist Gewicht, da ist Geschichte drin. Es duftet. Besonders dann, wenn man blättert. Von Mief kann keine Rede sein. Mit einem Wort: Dieses Nachschlagewerk des Herder-Verlags macht Freude.

Zur vornehmsten Ausrüstung eines an Geschichte interessierten Menschen gehört der „Große Ploetz“. Ohne ihn ist die Geschichtsschreibung des Menschen wie ein Friseur ohne Kamm. „Es stand im ,Ploetz‘“, wurde im zwanzigsten Jahrhundert aufgrund der typischen „Ploetz“-Eigenschaften zu einem geflügelten Wort. Und das zu Recht: Das Buch ist für den Historiker, der seinen Gegenstand in übergreifende Zusammenhänge eingebettet sehen möchte, ebenso erhellend wie für den an Geschichte interessierten Laien. Es gibt wohl kaum ein Handbuch, das in annähernd vergleichbarer Opulenz Ereignis an Ereignis reiht.

Der „Große Ploetz“ will vermitteln und „gesicherte Resultate der neueren historischen Forschung“ geben, so schon der Gründer Carl Ploetz im Jahr 1863. An den Grundprinzipien hat sich seit über 135 Jahren nichts geändert. Das 2.080 Seiten zählende Werk enthält mehr als 100.000 Informationen von der Urgeschichte bis in die heutige Zeit. Der erfrischende Stil ermöglicht dem Laien ein flüssiges Lesen und Schmökern. Das moderne Layout und die leichtverständlichen Texte laden zum Stöbern in der Fülle der Daten ein.

Der Stoff ist chronologisch in historische Epochen gegliedert. Die europäische Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit bis 1945 faßte man jeweils für sich zusammen. Großepochen werden transparent dargestellt, und die Staatengeschichte aller Länder der Erde wird übersichtlich präsentiert. Die einzelnen Kapitel sind hübsch und ordentlich nacheinander geordnet: Zuerst kommt der Einführungstext mit den geographischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, dann beschreiben thematische Blöcke zeitlich übergreifende Entwicklungen und Strukturen. Eine Datenspalte informiert stets über Jahr, Monat, Tag, manchmal einschließlich Uhrzeit. Am Seitenrand finden sich Grauraster mit sechs bis zehn Stichworten, die das Auffinden von Namen und Begriffen erleichtern. Das Personen- und Sachregister weiteten die Herausgeber auf über 100.000 Nachweise aus. Die 80 Autoren der mittleren und älteren Historikergeneration erfaßten die neueste Zeit in einer veränderten, schlüssigen Gliederung. Alles ist, wie berechtigterweise herausgestellt wird, innerhalb von zwei Jahren auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht worden; der letzte Eintrag datiert vom 15. Februar 1998.

Besonderes Gewicht wurde auf die deutsche Wiedervereinigung sowie auf die weltpolitische Wende 1989/90 gelegt. Schaubildern, Stammtafeln oder Tabellen zur zeitgeschichtlichen Wirtschafts- und Sozialentwicklung gab der Herder-Verlag ein ansehnliches Layout. Gerade Geschichtslehrer nutzen diese Aufzeichnungen für Tafelbilder im Unterricht. Auch für jeden Studenten sind die zusammenfassenden Kapitel einzelner Epochen ein Muß im Studium, um einen ersten Überblick zu erhalten. Leider ist oft selbst an Universitäten, an denen „Ploetz“- Autoren tätig sind, das Werk vergriffen. An der Universität zu Köln soll nur ein neuer „Ploetz“ für knapp 2.000 Geschichtsstudenten angeschafft werden.

Der Herder-Verlag muß sich allerdings die Frage stellen: Wird der neue „Ploetz“ der letzte in Buchform sein? Diese Frage kann zur Zeit gewiß nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Vieles spricht dafür. Mitnichten sieht der Verlag trotz der neuen Medien und des sich wandelnden Informationsverhaltens eine „Lexikondämmerung“ am Horizont. Die Konkurrenz lauert im Internet oder auf CD-ROM. Die Zahlen vom Institut für Demoskopie in Allensbach sprechen schlichtweg eine deutliche Sprache: Vier Millionen Deutsche ab 14 Jahren nutzen Nachschlagewerke partout auf ihren Computern.

Zwar bieten die „Ploetz“-Herausgeber einen Aktualisierungsdienst mit den neuesten für die folgenden Auflagen vorgesehenen Daten, Fakten und Ereignisse an, dennoch dürfen nur die Käufer des fast unerschwinglichen Werks die „Ploetz-Hotline“ per E-Mail nutzen. Die Vorzüge einer CD-ROM liegen auf der Hand. Ganze Regalmeter gewichtigen Papiers lassen sich restlos auf die zehn Millimeter einer CD-Hülle schrumpfen. Im Vergleich zu den Druckmedien eine Materiallosigkeit, die es leichtmacht, eine überholte Fassung im Nu gegen die aktuelle auszutauschen. Gebirgsmassive von Texten, die sich rasch nach einzelnen Wörtern durchsuchen lassen; von der Integration von Ton und Bild ganz zu schweigen.

Da helfen die neuen drei Lesebänder im „Ploetz“ wenig. Die Galgenfrist geht zu Ende, sogar für den „Großen Ploetz“. Das zeigt ein Beispiel aus Großbritannien. Das Flaggschiff unter den Enzyklopädien der Welt, die große, teure und behäbige „Encyclopædia Britannica“, trafen drei konkurrierende CD-ROM-Enzyklopädien so hart, daß sie gefährlich ins Schlingern geriet. Die Verleger reagierten prompt. Heute ist sie für 300 Dollar – einen Bruchteil ihres einstigen Papierpreises – auf CD-ROM erhältlich. Hat der Herder-Verlag die Lage nicht begriffen? Scheinbar nicht. Und die Strafe wird folgen. Denn auch die (auf der 29bändigen Funk und Wagnalls New Encyclopædia beruhende) Microsoft Encarta 98 ist für gerade mal 199 Mark in deutscher Sprache erschienen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: 27.500 Artikel, 8.000 Fotos, Illustrationen und Karten, 1.000 Videos und Animationen, 1.900 Audioclips. Geschichte und Wissen auf einen Blick, per Mausklick.

Da greift so mancher Geschichtslehrer oder Professor eher auf die elektronische Version als auf den Papier-„Ploetz“ zurück. Lehrer können sich infolgedessen die Informationen herunterladen, kürzen oder erweitern und für den Unterricht beziehungsweise die Vorlesung präparieren. Das imposante Prachtexemplar der „Große Ploetz“ droht zusehends selbst zum Geschichtsmythos zu werden. Christian Esser

„Der Große Ploetz – Enzyklopädie der Weltgeschichte“. 32., neubearbeitete Auflage, Herder- Verlag, 2.048 Seiten, 248 DM