Der Fundamentalismus hat kein Fundament

Der Friedens- und Konfliktforscher Dieter Senghaas räumt mit dem Klischee vom Kampf der Kulturen auf. Nicht zwischen den Gesellschaften und Religionen, wie Huntington und andere behaupten, sondern in ihnen verlaufen die Konfliktlinien  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Der Rest der Welt gegen den Westen, Fundamentalismus versus Moderne. Das ist, zugegebenermaßen etwas verkürzt und grob zusammengefaßt, die Botschaft, die Samuel P. Huntington vor nunmehr fünf Jahren mit seiner These vom „clash of civilizations“ um den Globus schickte. Seitdem geistert der „Kampf der Kulturen“ durch die Welt, erscheint für manche Zeitgenossen der Islam als die größte Bedrohung und Herausforderung des Westens. Seitdem versucht Bundespräsident Roman Herzog dagegenzuhalten. „Macht nicht den Fehler, daß ihr jeden Terroristen mit dem Islam gleichsetzt und den Islam mit dem Terrorismus. Schaut euch die Dinge genau an“, forderte Herzog, der sich die Widerlegung der Huntingtonschen Thesen zur Herzensangelegenheit gemacht hat, die Bundesbürger erst kürzlich wieder in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf. Im gleichen Atemzug klagt er mehr Offenheit und Kompetenz im interkulturellen Dialog ein.

Genau hinschauen – das hat der Bremer Friedens- und Konfliktforscher Dieter Senghaas in seinem soeben erschienenen Buch „Zivilisierung wider Willen – Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst“ getan. Einen möglichen oder gar unausweichlichen Zusammenprall zwischen den von Huntington ausgemachten sieben großen Weltkulturen kann Senghaas bei noch so genauem Hinschauen nicht ausmachen. Der Betrachtungsweise à la Huntington liege ein essentialistischer Kulturbegriff zugrunde, der einer genauen Überprüfung nicht standhalte.

Glücklicherweise setzt Senghaas Huntingtons (potentiell) konfliktreichem Weltgeschehen keine Schönfärberei entgegen, wie dies Propagandisten der „Feindbild Islam“-These und andere Trikont- Romantiker gerne tun. Auch er sieht, daß tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche, die Transformation traditioneller in moderne Gesellschaften weltweit zu Fundamentalpolitisierung bis hin zu Bürgerkriegen führen.

Der kleine, aber nicht ganz unerhebliche Unterschied liegt für den Autor allerdings in folgendem: Die kulturellen Konfliktlinien der Gegenwart verlaufen nicht zwischen den vielzitierten Kulturblöcken – der Westen versus islamische Welt, die islamisch-konfuzianische Kulturen gemeinsam gegen den Westen etc. Da Kulturen zum einen alles andere als homogen sind und die Modernisierung zum anderen gleichzeitig zu einer zerklüfteten Gesellschaft mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Interessen und Identitäten führt, sind widerstreitende Dominanz- und Machtansprüche das Resultat.

Die kulturellen Konfliktlinien verlaufen deshalb heute seltener transnational, sondern überwiegend innerhalb der Gesellschaften selbst. Als Beispiel mag hier der Verweis auf entsprechende Konflikte in Ägypten, Algerien, Sri Lanka und Indien genügen.

Wie sind nun die zahlreichen aktuellen Konflikte und Bürgerkriege im historischen Kontext zu bewerten? Am Beispiel Europas beschreibt Senghaas, daß die Zivilisierung von Gesellschaften häufig wider Willen geschieht, die Intoleranz meist näherliegt als Toleranz. Senghaas fordert dazu auf, die „wirkliche Geschichte der Moderne“, die Realgeschichte Europas, in ihrer ganzen Komplexität wahrzunehmen.

Mit Rekurs auf Dieter Oberndörfer hält Senghaas fest: „Der republikanische Verfassungsstaat selbst war weder in Europa noch in Deutschland das vermeintliche und logische Endergebnis der europäischen Geschichte und Kultur. Er mußte hier vielmehr erst in langen Kämpfen gegen die dominanten Überlieferungen durchgesetzt werden. In Deutschland bedurfte es hierzu in jüngster Zeit sogar noch der Hilfe der Alliierten.“ Dies mitzudenken sei die beste Immunisierung gegen kulturessentialistische Projektionen, ein gutes Rüstzeug für den interkulturellen Dialog. Denn den Europäern würde so wieder bewußt, daß weder Toleranz noch universalistische Werte per se ein Wesensmerkmal ihrer Kultur sind, sondern mühsam erarbeitet werden mußten und stets aufs neue verteidigt werden müssen, wie aktuell die um sich greifende rechtsradikale, antidemokratische jugendliche Subkultur im Osten Deutschlands drastisch vor Augen führt.

Bei einem etwas anstrengenden, da zum Teil kryptischen Gang durch die islamischen, konfuzianischen, hinduistischen und buddhistischen Kulturen und deren Geistesgeschichte kommt Senghaas schließlich zum Schluß, daß es in allen Kulturen Vorstellungen von guter und schlechter Herrschaft gibt. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick banal klingen, ist allerdings eine Grundvoraussetzung, die Kulturen mit sich selbst in Konflikt geraten und darüber selbstreflexiv werden läßt. All dies sind, wie das Beispiel Europa zeigt, unerläßliche Voraussetzungen für eine Zivilisierung von Gesellschaften.

„Zivilisierung wider Willen“ bietet darüber hinaus Handreichungen, wie ein fruchtbarer interkultureller Dialog gestaltet werden könnte. Senghaas widmet sich dabei eingehend der modisch-kontroversen Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus. Er hält all jenen, die sich am eifrigsten um einen Dialog mit dem Islam bemühen und die These vom „Feindbild Islam“ hochhalten, vor, daß sie erstens einen vermeintlichen „Konflikt zwischen Abendland und Morgenland“ erneuern, der nur mit Rückgriff auf einen essentialistischen Kulturbegriff funktioniert.

Zweitens weist er darauf hin, daß im Gegensatz zur häufig vorgetragenen Unterstellung kein brisanter, heißer Konflikt der islamischen und der westlichen Welt existiert, es allerdings eine Reihe von Konflikten innerhalb und zwischen den Staaten der arabisch-islamischen Welt gibt. Drittens macht Senghaas darauf aufmerksam, daß die realen Gefährdungen für die Muslime ganz woanders liegen als in ihrem Verhältnis zum Westen, nämlich in ihren eigenen Gesellschaften und im indisch-hinduistischen Bereich. Schließlich fordert der Autor: „Keine Konferenz mehr über den islamischen Fundamentalismus!“

Dies fordert Senghaas nicht deshalb, weil es diesen Fundamentalismus etwa nicht gäbe – es gibt ihn –, sondern weil gerade diejenigen, die den Fundamentalismusbegriff am heftigsten kritisieren und in ihm den Ursprung für das Feindbild sehen, bislang wenig dazu beigetragen haben, das ganze Spektrum des Denkens im islamischen Bereich zu dokumentieren. Statt die x-te Tagung über den Fundamentalismus abzuhalten, auf der dann erneut verniedlicht und verharmlost wird, sollte ein verstärkter Dialog mit den Repräsentanten eines modernen demokratischen Islam über deren eigene Konzepte eingeleitet werden. Stärkung der zivilen Kräfte nennt man das wohl.

Dieter Senghaas: „Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst“. edition suhrkamp 2081, Frankfurt am Main, 225 Seiten, 18,80 DM