: Liebe auf einen Drink
Einsam in New York: Anna Thomson verkörpert die urbane Eremitin „Sue“. Ein Porträt ■ Von Birgit Glombitza
Die Zeit zwischen sechs waagerechten und vier senkrechten Kästchen. Sue sitzt auf einer Bank und löst Kreuzworträtsel. „Zeig mir deine Brüste“, sagt der ältere schwarze Mann neben ihr. Sue schaut auf. Nur einen Augenblick spiegelt sich die Unverschämtheit dieser Bestellung in ihren Zügen. Doch dann nennt sie ihr Honorar: „Verbindlicher Richtpreis mit Seniorenrabatt, zehn Bugs und ein Mystic Strawberry.“ Die Handelnden sind sich einig. Europäische Hauptstadt mit sechs Buchstaben? „PARRIS“, sagt der Mann. Sie lächeln. Da zeigt Sue ihre Brüste. Gerade lang genug, daß er sie sich merken kann. Ein Sonntag im Park.
Anna Thomson spielt Sue. Und diesmal wird man die zierliche Frau mit der hohen, klaren Stirn, den schweren Lidern über den großen Augen nicht so leicht wieder vergessen können. Dabei sind wir ihr schon oft begegnet. Anna Thomson, das ist die Frau im Fahrstuhl in Wall Street, die Little Dot aus Heaven's Gate und die ver-narbte Hure mit müdem Blick, für die sich Altpistolero Clint Eastwood in Unforgiven noch einmal zu einem Showdown zusammenrafft. Was La Notte für Jeanne Moreau, daß könnte Sue für Anna Thomson werden. Denn Thomson spielt sie nicht einfach, sie verkörpert sie mit jeder Pore. Und wenn man sie in dem Korbsessel in ihrem Hotelzimmer fast verschwinden sieht, ihr dabei zuschaut, wie sie ihre dünnen Arme wie Salatbesteck auf ihrem Schoß ablegt, dann fürchtet man um jedes falsche Wort, das sie verscheuchen könnte. Wie Sue, wenn sie mit hochgeschlagenem Mantel über tiefem Dekolleté im Morgengrauen nach Hause kommt. Ihre umschatteten Augen und vor Verachtung schweren Mundwinkel, wenn wieder einer nicht verstand, daß er sie zwar begrabschen, aber ihr niemals folgen darf.
„Sue ist zwar verzweifelt, sie hat keinen Job, kaum noch Geld, aber sie hat sich einen, wenn auch zweifelhaften, Rest Selbstbewußtsein bewahrt. Sie weiß, daß sie attraktiv ist, also macht sie einen Deal: Ich geb dir meinen Körper, und du nimmst mir für ein paar Stunden meine Einsamkeit“, erklärt Anna Thomson ihre Protagonistin in Amos Kolleks meisterhaftem Porträt einer urbanen Einsiedlerin. Wenn Anna Thomson als Sue ihren Blick bis auf einen Rest Bitterkeit leerräumt und Ben, den einzigen, der sie ehrlich zu lieben scheint, abweist, weil sie schon längst nicht mehr an die Logik des Herzens glaubt, dann spielt sich hier ein ganz besonderes Melodram ab. Behutsam und dennoch mit der ganzen Wucht eines existentiellen Notstandes.
Seitdem sie zwei ist, steht Anna Thomson vor der Kamera. Fotos für Babymoden. Als zünftiges Engelchen im Indianerpfeilhagel auf versehentlich brennenden Planwagen posierte sie für den neuesten Kinder-Countrylook. „Das gab mir ein Selbstbewußtsein, von dem ich bis heute zehre“, sagt sie und deutet Pubertätsnöte einer Prinzessin ohne Hofstaat an. Neun Jahre besuchte sie die renommierte Joffrey Ballet School und versuchte in Paris ihr Glück als Tänzerin. Ohne nennenswerten Erfolg. Sie weiß, wie das ist, wenn das letzte Kleingeld „nur noch für ein Croissant reicht. Das schlimmste daran ist, daß du nur noch zusiehst, wie eine Tür nach der anderen vor dir zufällt.“
Zwei ihrer Tanten lieferten Anna Thomson die Sue-Vorlage. „Sie müssen in den 60ern unwahrscheinlich schön gewesen sein. Doch ihr Leben verlief tragisch. Bis zu ihrem Tod haben sie noch die elegante Ausstrahlung unnahbarer und zugleich sehr spontaner Ladies bewahrt. Die beiden hatte ich vor Augen, atmete tief durch und schritt als Sue in diesen altertümlichen Kostümen die Straßen im New Yorker East Village ab.“ Dort in den Cafés fragt Sue den Erstbesten aus, ist penetrant und schlagfertig und knipst mit jeder Koketterie kleine Scheinwerfer um sich herum an. Ein begehrender Blick muß her. Wenigstens ein Körper für diese Nacht. „Vielleicht ist es schwieriger, sich nackt in einem Film zu zeigen, der so ehrlich ist, der nicht alles schöner und glatter macht als es ist, doch gerade bei Sue macht es Sinn, sie in ihrer Haut und eben auch in ihren äußerlichen Grenzen zum anderen zu zeigen.“ Trotz ihrer routinierten Sexualität bleibt Sue ein verhuschtes Mädchen, das vergeblich nach den roten Schuhen sucht, die sie mit einem Hackenschlag zurück ins Leben befördern könnten. Und manchmal hätte sich auch Anna Thomson ein bißchen mehr Zauberkraft für die eigene Karriere gewünscht.
Ein Film über junge Prostituierte im East Village ist Thomsons nächstes Projekt. Da geht es um Frauen, die wie die abgebrühte Hure Lola in Sue sind – die über ihre Brüste redet wie der Bäcker übers Mehl und das Frühstück der Heldin kurzerhand mit einem Überfall finanziert. Die Frauenfreundschaft dauert nur ein paar Tage. Die Liebe zu dem Journalisten Ben bremst Sues Ungläubigkeit aus. Sie weiß es nicht besser. „Im Leben weiß man doch auch nicht“, sagt Anna Thomson, „daß er der Prinz sein soll. Das ist eine Sehnsucht, die sich das Kino nur selten verkneifen kann.“
„Sue“ läuft im Abaton und Zeise. Eine Rezension lesen Sie im überregionalen Teil.
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