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Tödliche Schönheit

■ Das Hildegard-von-Bingen-Konzert von „Anonymous 4“ enttäuschte beim Musikfest

Die charismatische, hochgebildete Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179), deren musikalischem Werk sich am Dienstag in der Kirche Unser Lieben Frauen die Gruppe Anonymous 4 widmete, ist für Gläubige eine Heilige, für Theologen eine Verfasserin kosmologisch-visionärer Schriften und Klostergründerin, für Naturwissenschaftler die erste namentlich erfaßte Ärztin. Historiker kennen sie als maßgebliche Diskussionspartnerin vieler bedeutender Kirchenmänner – wie des einflußreichen Bernard von Clairvaux – und weltlicher Herren. „Wo ist jetzt der Klang deiner unüberhörbaren Melodien?“, schrieb ihr Sekretär, der Mönch Volmar, als die Äbtissin sich auf einer ihrer zahl- und einflußreichen Predigtreisen befand, in denen sie scharfe Zeitkritik am nachlässigen Klerus nicht scheute. Insgesamt siebenundsiebzig Gesänge hat die immer kränkliche Frau, die sich selbst als „kleine Feder“ bezeichnete, verfaßt.

Musikalisch empfindet sie sich selbst als Laiin. „Auch Lieder mit Melodien zum Lobe Gottes und der Heiligen verfaßte und sang ich ohne die Belehrung eines Menschen, obwohl ich niemals Neumen und Gesang erlernt hatte“. Neumen: Die Zeichen, die Vorläufer unserer Notenschrift sind. Sie sind die Handzeichen für den Leiter einer Gesangsgruppe, eckig, bogig, spitz, gepunktet und zeigen laut heutigen Forschungsergebnissen, daß es sich noch um eine Sprachmusik handelt, deren rhythmische Komponente der lateinischen Prosodie entspricht.

Die vier Sängerinnen der Gruppe „Anonymous 4“, die jetzt beim Musikfest auftraten, entschieden sich eher für einen klangschönen Einheits-stil, der in bezug auf die auszudeutenden Texte kaum Unterschiede machte. Ohnehin war vieles mißverständlich an diesem Abend. Schon die Ankündigung „Anonymous 4 singt Hildegard von Bingens '11.000 Virgins'“ verwirrte vollkommen. Fakt ist, daß Hildegard einige Responsorien, Sequenzen und Hymnen auf die bretonische Märtyrerin Ursula geschrieben hat, die mit elf Jungfrauen (oder auch 11.000, was man aber eher für einen Schreibfehler hielt) nach Rom zog und auf dem Rückweg ermordet wurde.

Von Hildegards Ursula-Liedern waren in dem Programm sechs Nummern zu hören, die anderen zwölf stammten aus anderen Codices, demnach von anderen Autoren. „Vigil“, „Laudes“ und „Vesper“ – nach den benediktinischen Officiums-Gottesdiensten – nannten die Sängerinnen die drei Teile ihrer Vorführung, die natürlich nichts von diesen liturgischen Vorgaben brachten, sondern nach reiner Konzertmanier willkürliche Zusammensetzungen waren. Die Lesungen dazwischen widmeten sich dem Leben der heiligen Ursula aus einer Dichtung aus dem 15. Jahrhundert, unsäglich geleiert rezitiert.

Viele Abschnitte der musikalischen Wiedergabe waren zweifelsohne schön, aber um zu verdeutlichen, daß es sich hier einerseits um liturgische Musik, andererseits aber auch um frei gedichtete Musik handelt, hätte es einer anderen Aufbereitung bedurft. Was Hildegards Personalstil prägt – wuchernde Melismatik, kühne Erweiterung des Tonumfanges bis über zwei Oktaven, ständig variierende Motivik, große Tonsprünge, die sie besonders gern an den Anfang stellt – war durch immergleiche Tonschönheit in immer gleicher Dynamik in immergleich akzentloser Rhythmik zumindest für unvorbereitete HörerInnen nicht wahrzunehmen. Ute Schalz-Laurenze

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