Ein Mythos kehrt zurück

Aus der alten Seidenstraße sollen moderne Transportrouten werden. Eisenbahngleise und Ölpipelines sollen das rohstoffreiche Zentralasien erschließen  ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Das Wort steht für einen Mythos – sagenhafter Reichtum aus fernen Ländern. Wer über die Seidenstraße spricht, denkt an Marco Polo, an lebensgefährliche, entsagungsvolle Reisen, an orientalische Traumstädte wie Buchara und Samarkant und eben an Seide aus China, Seide, die in Gold aufgewogen wurde.

Allein der Name ist heute wieder Programm – für neuerlichen Reichtum, den jetzt nicht mehr die Seidenraupe bringen soll, sondern das flüssige Gold unter dem Kaspischen Meer, den Salzwüsten Turkmenistans und der Steppe Kasachstans: Öl und Gas ist der Stoff, aus dem heute die Träume vom großen Geld entlang der ehemaligen Seidenstraße sind. Dabei ist das entscheidende Problem von damals das gleiche geblieben wie heute: Wie kommen die potentiellen Reichtümer auf den Markt?

Zwei Tage lang haben sich jetzt hochrangige Vertreter aus 32 Ländern – aus einigen Staaten waren Präsidenten oder Ministerpräsidenten anwesend – in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans am Kaspischen Meer, diesem Problem gewidmet. Unter Mithilfe der UNO und der Europäischen Union soll eine moderne Seidenstraße mit dem wenig phantasievollen Namen TRACECA (Transport Corridor Europe–Caucasia– Asia) aufgebaut werden, auf der zukünftig die Schätze Zentralasiens in den Westen gebracht werden sollen.

Tatsächlich hat das neue Projekt mit einer wie immer gearteten Seidenstraßenromantik nicht das geringste gemein. Es geht um die Erschließung von Ölreserven, die nach den Vorkommen auf der arabischen Halbinsel die größten fossilen Energiereserven der Welt darstellen. Und es geht auch um Geopolitik. Die USA und die EU wollen den Einfluß Rußlands in dessen angestammtem Hinterhof brechen und gleichzeitig den neuen Reichtum am iranischen Mullah–Land vorbeileiten.

Gestern wurde von den 32 Staaten, darunter den Transkaukasusrepubliken, der Türkei, der EU, den USA, Japan und China eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Verbesserung und den Neubau von Straßen und Schienenverbindungen sowie der Seewege in dem Korridor von Zentralasien über den Transkaukasus durch die Türkei nach Europa zum Ziel hat. Die Idee zu TRACECA stammmt aus Brüssel. Dort fand auch die Gründungsversammlung statt. Im Mai 1993 waren auf Einladung der EU fünf zentralasiatische Staaten und die drei Transkaukasusrepubliken Aserbaidschan, Georgien und Armenien bei der EU-Kommission in Brüssel zu Gast, um mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union das Projekt TRACECA zu starten. Gestern wurde unter anderem vereinbart, in Baku ein ständiges Büro und eine aus verschiedenen Regierungen besetzte Kommission einzurichten.

Neben dem Bau von Öl- und Gaspipelines (siehe Karte) geht es vor allem um Eisenbahnlinien und die Anbindung der Schwarzmeerhäfen Odessa in der Ukraine und Constanza in Rumänien an Handels- und Verkehrsströme. Hier soll zukünftig ein Großteil der Waren für Nord- und Mitteleuropa geführt werden. Eine neue Eisenbahntrasse, die in Teilstücken bereits existiert, soll zukünftig von Istanbul über Tbilissi und weiter nach Baku bis in die usbekische Hauptstadt Taschkent führen.

Die Finanzierung der Bahnstrecke scheint gesichert, und vor allem die Türkei erhofft sich einen Aufschwung im Zentralasienhandel: Momentan müssen alle türkischen Waren durch den Iran transportiert werden, dabei kassiert der Iran horrende Transitgebühren.

Bei der Routenplanung für die Pipelines drängte die Türkei auf eine Trasse durch ihr Land. Ministerpräsident Süleyman Demirel war persönlich nach Baku gereist, um in einem Gespräch unter vier Augen mit seinem aserbaidschanischen Kollegen Gaidar Alijew dafür zu werben.

Als Erfolg wertete die Türkei auch, daß der Vertrag einen Passus zur Umweltverträglichkeit der Öltransporte enthält. Die Türkei interpretiert ihn so, daß die Zahl der den Bosporus passierenden Öltanker begrenzt wird – ein weiteres Argument für die Pipeline durch die Türkei. Die türkische Presse feierte den Abschluß des Vertrages denn auch begeistert als den entscheidenen Schritt des Landes, zukünftig der Knotenpunkt Eurasiens zu werden.