Auf die Nesseln gesetzt

■ Gourmets ist die Brennessel seit jeher bekannt – jetzt entpuppt sich der verkannte Ackersprößling als wahre Allzweck-Pflanze Von H. Haarhoff

Die Zeiten, als mein Vater mit der Sense auszog, um den Brennesseln hinterm Haus den Garaus zu machen, sind ihm und mir noch heute in bester Erinnerung. Auf Geheiß seiner Frau, die auf einem „unkrautfreien“ Garten bestand, trat er den schweren Gang zweimal jährlich murrend an. Um jedesmal bekümmert festzustellen, daß ihm die pieksenden Widerspenstigkeiten – Sense, Gift und Wurzelverbrennung zum Trotz – schon wieder über den Kopf gewachsen waren: Mein Vater hat in seiner Hochphase mit den merkwürdigsten Strategien sämtliche Schachgrößen des Dorfes matt gesetzt; gegen die Brennnesseln siegte er nie.

Was hätte er darum gegeben, wenn er schon damals geahnt hätte, daß die widerstandsfähigen grünen Stengel mit ihren Brennhaaren an der gezackten Blattunterseite keinesfalls zu den minderwertigen Ackersprößlingen zählen, sondern wahre „Allzweck-Pflanzen“ sind: Aus ihren Fasern lassen sich – ähnlich wie beim Hanf – strapazierfähige Natur-Stoffe, Textilien und Dämmstoffe gewinnen, der Holzanteil im Stengel kann zu Papier und Zellstoff verarbeitet werden. Der Extrakt aus Blättern und Stengeln eignet sich sowohl als blutreinigendes und harntreibendes Arzneimittel als auch als Dünger auf Feldern und – entsprechend aufgekocht und gewürzt – als Nahrungsmittel, das so ähnlich schmeckt wie Spinat. Damit nicht genug: Brennnesseln sind umweltverträgliche „Dauerkulturen“, die sich mehr als zehn Jahre an einem Ort halten, ohne besonderer Pflege zu bedürfen. Dabei entziehen sie dem Boden auch noch Stickstoff. Sie eignen sich also vorzüglich, um nährstoffarme landwirtschaftliche Brachflächen wieder „fit“ für anspruchsvollere Anbauarten wie Kartoffeln zu machen. Wenn mein Vater das alles gewußt hätte – er hätte den ganzen Garten verwildern lassen und seine Abneigung gegen Jäte-Arbeit mit ökologischer Überzeugung begründet.

In Zeiten, wo alternative Naturfasern wie Hanf, Flachs und Brennnesseln wieder in Mode kommen, widmet sich auch die Wissenschaft – wenn auch in kritischer Distanz zu den „Ökospinnern“ – zunehmend der Erforschung der Pflanze: Seit zwei Jahren untersucht der Hamburger Diplom-Biologe Jens Dreyer im Rahmen seiner Doktorarbeit die Chancen der Nessel als Rohstoff-Lieferantin und Nutzpflanze in der Landwirtschaft. „Es gibt Versuchsfelder in Göttingen und bei Hamburg, auf denen die Zucht derzeit erprobt wird.“ In Abständen von 70 bis 140 Zentimetern werden die Setzlinge gepflanzt; ihre bis zu 2,50 Meter hohen Stengel in den Sommermonaten zweimal maschinell „geerntet“. Außer Insekten, die sich an den Pflanzen laben, hat die Brennessel wenig natürliche Feinde: „Ihre Brennhaare, die Ameisensäure enthalten, schaffen ihr einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Pflanzen. Es gibt keinen Warmblüter, der sie freiwillig fressen würde.“ Selbst ansonsten wenig wählerische Schweine rühren die Brennessel allenfalls dann an, wenn sie leicht verwelkt ist und keine starken Reizungen mehr hervorruft. „Deswegen gedeihen sie auch ohne Einsatz von Pestiziden; auf den Feldern können auch Klee und Kamille gedeihen, so daß Monokulturen vermieden werden.“

Die Entdeckung der Brennessel als Nutzpflanze ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Als Gespinstpflanze spielte sie bereits vor der industriellen Einführung der Baumwolle in Europa eine wichtige Rolle. Schon 1723 gab es in Leipzig eine Nesselmanufaktur. Ab 1920 wurden die Nesseln züchterisch bearbeitet, und im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland rund 500 Hektar mit Zuchtfasernesseln bestellt und jährlich rund 100 Tonnen Fasern verarbeitet. „Für ein Hemd benötigt man etwa 600 Gramm Rohstoff“, sagt Jens Dreyer; das sind schätzungsweise zehn Pflanzen. Daß die Brennessel-Zucht ab 1950 eingestellt wurde, liegt an der Verdrängung durch Kunst- und Baumwollfasern. „Heute wird die Herstellung aber wieder interessant, weil Transportwege und Schädlingsbekämpfungsmittel wegfallen und der Anbau extensiv ist.“ Es gelte, Bauern von dem ökologischen Anbau zu überzeugen. Eine Konkurrenz zur „Alternativ-Faser“ Hanf sieht Dreyer höchstens in der Verwertung, nicht aber im Anbau: „Hanf muß jedes Jahr gepflanzt werden, Nesseln nur alle zehn.“

An der TU Harburg erforscht Biologie-Student Stefan Mondenschein derzeit technische Verfahren, um Fasern aus dem Nessel-Stengel schonend – statt wie bisher mit aggressiver Natronlauge – unter Einsatz von Enzymen zu gewinnen: Wenn das gelingt, steht dem Nessel-Boom – in Geschäften heute noch eine Rarität – eigentlich nichts mehr im Wege.

In Hamburg hat sich im Frühjahr ein Nessel-Verein gegründet. Kontakt über Jens Dreyer, 040/ 692 90 44