Das schlechte Gewissen der CDU

Vor der Wende: Sie waren Mitglieder der CDU in Thüringen. Sie hatten zu leiden unter der SED. Nach der Wende: Sie prangern die ehemaligen Kollegen aus der Blockpartei an. Die, die sich mit dem SED-Staat arrangierten. Und sie mühen sich um ihre eigene Rehabilitierung. Über drei Unbequeme, die hervorkramen, woran sich die CDU Ost wie West nicht erinnern möchte – die Blockflöten  ■ Jens Rübsam (Text) und Bert Bostelmann (Fotos)

I Nüringens CDU-Landesgeschäftsführer Andreas Minschke hält sich an die bewährten Regeln seines Amtes. Zuerst lobt er die Partei: „Die Thüringer CDU zeichnet sich durch Geschlossenheit aus.“ Dann preist er sich selbst: „Ich bin der dienstälteste ostdeutsche Landesgeschäftsführer.“ Und zu guter Letzt diktiert er Journalisten in den Block: „Die CDU hat kein Blockflöten-Problem.“

Erfurt, 18. Juli 1995. Vor dem Kultusministerium beginnt der Lehrer Wolfgang Mayer, CDU-Mitglied, einen fünfmonatigen Streik. Auf einem Plakat steht: „Hier sitzen Honeckers treue Diener von einst“.

Münster, Sommer 1996. Im Verlag „AT Edition“ erscheint ein 79seitiges Büchlein. Titel: „Die DDR tickt weiter“. Autorin: Anni Bellers, Referatsleiterin im Thüringer Sozialministerium und CDU-Mitglied.

Dresden, 13. August 1998. In einem Fernsehstudio des MDR sagt Claudia May: „Ich kann dem Bundeskanzler nur empfehlen, daß er sich Artikel 17 des Einigungsvertrages mal durchliest. Sonst muß er sich vielleicht damit abfinden, daß er die Wahl verliert.“ Claudia May, Sachbearbeiterin im Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt, ist CDU-Mitglied. Ausweisnummer: 5605-01960.

Eine Reise durch Deutschland. Zu Wolfgang Mayer und Claudia May nach Erfurt. Zu Anni Bellers ins westfälische Siegen. Das schlechte Gewissen der CDU sitzt inzwischen überall. Nur nicht in der schmucken Erfurter Villa, in der der Landesgeschäftsführer residiert.

Hier läßt sich Andreas Minschke in seinen schweren schwarzen Sessel fallen, von seiner Sekretärin Kaffee bringen, gelangweilt sagt er: „Das Thema ,Blockflöten' ist für mich abgegessen.“ Die Thüringer Christdemokraten haben keinen Gesprächsbedarf mehr – nicht mehr seit dem 17. Juni 1995, seit dem 7. Landesparteitag in Weimar, der nur eine Funktion hatte: „50 Jahre CDU“ zu zelebrieren. Anfangs noch hatte ein Festredner leise zur Kritik angesetzt: „Es entstand unter Götting eine von Sekretären instruierte Kaderpartei.“ Gerald Götting, CDU-Parteichef von 1966 bis 1989 und stellvertretender Staatsratsvorsitzender, galt als ausgewiesener Honecker-Freund. Dann aber beeilte sich der Festredner, die Delegierten zu beruhigen: „In erster Linie waren die Blockparteien politische Überlebens- und Ruhezone.“ Es durfte gefeiert werden, bei Bratwurst und Bier aus Thüringen. Nicht lange.

Einen Monat später, am 18. Juli 1995, klappt der Ilmenauer Lehrer Wolfgang Mayer vor dem Erfurter Kultusministerium einen Campingstuhl auf, schlägt die Beine übereinander, stemmt mit der rechten Hand einen bunten Regenschirm in den trüben Sommertag und mit der linken ein Plakat: „Hier sitzen Honeckers treue Diener von einst“. Das Thema, das „abgegessen“ schien, stand plötzlich direkt vor der Tür. Vor der richtigen.

Kultusminister Dieter Althaus (CDU) gilt in Thüringen als Blockflöte besten Klanges. Lehrer an einer Polytechnischen Oberschule im Grenzdorf Geismar. Stellvertretender Schulleiter. Mitglied im Bezirksausschuß für Jugendweihe. Verfasser eines Artikels in der FDGB-Gewerkschaftszeitung „Unterricht und Erziehung“. „Wie schaffen wir es, unseren Schülern die Werte des Sozialismus als moralisch erstrebenswert erkennen zu lassen?“, fragte Althaus. Nach der Wende meldete sich ein ehemaliger Schüler zu Wort. Althaus habe ihn, nachdem er sich geweigert habe, an der schulischen Wehrausbildung teilzunehmen, als „staatsfeindliches Subjekt“ bezeichnet.

Gut zwanzig Prozent aller Thüringer Pädagogen sind nach 1989 als „bedenklich“ eingestuft worden. Althaus ist noch heute Kultusminister. Note „Sehr gut“ für erfolgreiches Begradigen der Biographie.

Das macht wütend. Vor allem die, die sich nicht mit dem SED-Regime arrangierten. Sich nicht zurückzogen auf eine Sofaecke und Westfernsehen schauten. Die auf eine Karriere verzichteten. Die offen protestierten gegen den SED-Staat. Wie lästige Fliegen auf einem Zwetschkenkuchen werden CDUler mit einer mutigen Biographie in den ostdeutschen CDU-Landesverbänden behandelt – nach Möglichkeit verscheucht. Zu peinlich erscheint vielen Altkadern die Erinnerung an damals, an das eigene Tun oder Lassen. Fast schon ist es eine Provokation, in Versammlungen die Zeit vor 89 anzusprechen oder gar einen Arbeitskreis SED-Unrecht gründen zu wollen.

In Erfurt bei Lehrer Wolfgang Mayer.

Ein freundlicher Herr in T-Shirt, Jeans und Latschen. Ein nüchternes Apartment. Fünfhundert Mark Miete. Im Kühlschrank eine Flasche Sekt, eine Flasche Whiskey, eine Flasche Sprudel, ein Becher mittelscharfer Senf. Mayer ist nicht wirklich angekommen in Erfurt. Oben im Regal ein Kohlautogramm. Unten viele schwarze Aktenordner. „CDU“ steht auf einem. „Stasi-Akten“ auf dem daneben. Fast schon Mayers ganze Geschichte. Er kann sie lückenlos rekonstruieren.

Am 10. März 1986 hat Wolfgang Mayer für seine Familie die Ausreise aus der DDR und die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft beantragt. „Wir sehen keine Möglichkeit mehr, unseren christlichen Glauben mit den Erfordernissen in Beruf und gesellschaftlichem Leben in Einklang zu bringen“, teilt der Lehrer für Polytechnik und Mathematik den Behörden mit. Tage später bekommt er Berufsverbot. Die CDU, seit 1983 seine Partei, hält sich bedeckt. Hätte sie etwas tun können?

In Mayers Stasi-Akte steht: „Es wird eingeschätzt, daß er nur einen Antrag zur Aufnahme als Kandidat der SED stellte, weil er als Auslandskader zum Einsatz kommen wollte.“ Mayer bittet, diesen Aspekt nicht auszuwalzen. War er etwa vor seinem Dissidentendasein ein williger Kandidat? Der in die SED eingetreten wäre, nur um ins Ausland reisen zu können? „Nein“, sagt Mayer streng, „mit der Ablehnung der SED-Mitgliedschaft wurde auch die Absicht fallengelassen, mich als Reisekader einzusetzen.“

Mayer ist heute in der DSU. Direktkandidat für die Bundestagswahl im Wahlkreis 307. Seine Konkurrentin: Claudia Nolte, CDU-Familienministerin. Was war ihre mutigste Tat vor der Wende? Und was ihre wichtigste nach der Wende? – auf Noltes Antworten wäre er gespannt. Seine stehen in achtzehn Stasi-Ordnern, auf 6.500 Seiten. Ausreiseantrag 1986. Besetzung der Dänischen Botschaft in Ostberlin 1988. Festnahme durch Beamte des DDR- Staatssicherheitsdienstes. Haftstrafe auf Bewährung. Ein halbes Jahr später darf Familie Mayer die DDR verlassen. Mayer macht eine lange Pause. Schenkt Sprudel nach. Und kommt auf die CDU zu sprechen. 1984 ist ihm der Posten des Ilmenauer Ortsvorsitzenden angetragen worden. Er lehnte dankend ab. Als sein Ausreisegesuch bekannt wurde, strich die CDU das Mitglied Mayer aus den Parteibüchern – ohne nähere Begründung. Im Westen, am 3. Oktober 1990, meldete sich Mayer bei einem Kreisverband in Rheinland-Pfalz wieder an. Die CDU hatte die Einheit gemacht. Fünf Jahre später will er zurück in den Schuldienst.

Mit Plakaten plaziert sich Wolfgang Mayer vor das Erfurter Kultusministerium. Er verlangt die Wiedereinstellung und seine Rehabilitierung. „Er hat sich gar nicht um eine Stelle beworben“, hallt es aus dem Ministerium. „Ich bin 1986 gar nicht rechtmäßig entlassen worden“, hält Mayer dagegen. „Mit einer Bewerbung würde ich das SED-Unrecht ja nur anerkennen.“ Mayer malt ein neues Schild: „Berufsverbote von der Stasi verhängt, vom Kultusministerium aufrechterhalten“. Am 12. Dezember 1995 vermelden die Zeitungen: „Stasi-Opfer nach hartnäckiger Belagerung wieder Lehrer“. Am 15. Juli 1997 erklärt Wolfgang Mayer seinen Austritt aus der CDU. „Arroganz führender Parteifunktionäre“ ist ein Grund. Ein wichtiger.

„Die ehemaligen Blockflöten stehlen sich aus der Geschichte“ schrieb Christian von Ditfurth bereits 1991 in seinem Buch „Blockflöten – Wie die CDU ihre realsozialistische Vergangenheit verdrängt“.

Die Vorderen kamen nicht weit. Josef Duchac, Thüringens erster Ministerpräsident, stolperte 1992 über seine Vergangenheit. CDU-Kreisvorsitzender von Gotha. Mitglied des Rat des Kreises Gotha, zuständig für Wohnungspolitik. Clown Ferdinand in einem Stasi-Erholungsheim. Festredner auf einer Feier anläßlich des 40. Jahrestages der DDR im Oktober 1989. Sein Beitrag: Das Lobgedicht „Mein Staat“. Willibald Böck, zeitweilig CDU-Landesvorsitzender und Innenminister, stolperte 1992 über eine Korruptionsaffäre. Wäre die nicht aufgedeckt worden, säße der ehrenamtliche Helfer der DDR-Grenztruppen und Bürgermeister eines DDR-Grenzdorfes – wer durfte das schon sein ohne Einverständnis der Stasi? – wahrscheinlich noch heute im Amt. Wie so viele ehemalige Ost-CDU- Mitglieder, die noch heute auf einem Pöstchen glucken. Von den 42 CDU-Abgeordneten im Thüringer Landtag waren sechzehn Mitglieder der Ost-CDU, darunter ehemalige Kreissekretäre, Mitglieder des Bezirksrates oder des Kreisvorstandes. Von den 341 Bundestagsabgeordneten der Regierungskoalition CDU/CSU und FDP waren 25 Mitglieder der Ost-CDU.

Flugs hatte sich 1990 die West-CDU (650.000 Mitglieder) mit der Ost-CDU (134.000) und der Bauernpartei vereinigt. Kanzler Kohl konnte sich fortan brüsten, hinter der PDS zweitstärkste Partei in den neuen Ländern zu sein. Was West-CDU und Ost-CDU außer dem Namen verband, interessierte Kohl nicht. Ebensowenig, wer da auf einmal in den eigenen Reihen saß. Bis heute kein Thema.

Von den inzwischen rund 68.000 ostdeutschen Parteimitgliedern hat die Hälfte eine Vergangenheit in der Ost-CDU. Im Landesverband Thüringen (16.500 Mitglieder) sieht es nicht anders aus. Der Erfurter Bundestagsabgeordnete Norbert Otto, seit 1964 in der Partei, bekam 1984 von seinem Bezirksvorstand die Otto- Nuschke-Medaille verliehen. Im Protokoll wurde vermerkt: „Er rief alle Freunde auf, allen Freunden die Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft zu vermitteln mit dem Ziel, weitere Aktivitäten zur Stärkung unserer Republik im 35. Jahr ihres Bestehens auszulösen.“ Heute ist Otto Vorsitzender der CDU-Landesgruppe Thüringen im Bundestag. Das Prinzip Otto gibt es öfter. Etwa der Erfurter Kreisgeschäftsführer, ein verdienter Ost-CDU- Mann. Welche Funktion? Darüber zu sprechen sei ihm die Zeit zu schade. Oder die Kreisvorsitzende. Sie saß für die CDU in der Volkskammer und ist heute Referatsleiterin für Verfassungsrecht im Justizministerium. Sie stehe zu ihrer Biographie, sagt sie in Interviews selbstbewußt, und: Das sei in den Ortsverbänden schon lange kein Thema mehr gewesen.

Das dürfte auch die ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, 1996 der CDU beigetreten, auf dem Leipziger Parteitag im Oktober vergangenen Jahres zu der Aussage verleitet haben: „Die CDU hat kein Blockflöten-Problem.“ Standing ovations. Der Kanzler jubelte.

Nun muß die Mitgliedschaft in der Ost- CDU kein Grund zur Verurteilung sein und kein Grund zum Mißtrauen. Aber sie kann zu Konflikten führen, da, wo man sich kennt: in den Ortsverbänden, Kreis- und Landesvorständen. Zwischen denen, die aufgestanden sind und sich gewehrt haben gegen den DDR-Staat, und denen, die freiweilig in eine der SED befreundeten Blockpartei eingetreten, an den Parteitischen sitzen geblieben sind und auch heute noch dort sitzen.

Anni Bellers könnte sich „übergeben“.

Anni Bellers ist eine kleine, resolute Frau. Blauer Blazer, feine Bluse, weite Hose, reichlich geschminkt. Wessi-Tussi wurde sie in Thüringen beschimpft, weil man sich wohl nicht vorstellen konnte, wie man mit feinlackierten Fingernägeln Thüringer Klöße formt. „Sie hat zwar ein Stück DDR-Vergangenheit, aber ihre eigentliche Charakterausbildung hat sie im Westen erfahren“, sagt man über sie.

Nun sitzt Anni Bellers wieder im Westen, in ihrem schmucken Eigenheim am Rande von Siegen, und findet für fast jeden Thüringer CDUler Worte, die, würde man sie aufschreiben, eine Welle von Verleumdungsklagen nach sich zögen. Blockflöte ist das harmloseste. Genauer gesagt, Blockflöte ist das Lieblingswort von Anni Bellers. Exakt vierzehnmal hat sie es in ihrem Schreiben vom 22. Mai dieses Jahres notiert, in dem sie die Gründe für ihre Abmeldung aus der „Ost-CDU“ darlegt. Den Brief werteten die Thüringer Christdemokraten „sofort als Parteiaustritt“. Dann köpften sie eine gute Flasche Sekt. Anni Bellers schäumt. „Ich bin nicht ausgetreten aus der CDU. Ich habe mich abgemeldet aus der ,Ost-CDU'.“ Jetzt muß das Gericht entscheiden. Sie will Mitglied im CDU-Kreisverband Siegen werden.

Anni Bellers ist im Eichsfeld aufgewachsen, einer streng katholischen Gegend. Die Eltern hatten eine Diktatur hinter sich und verachteten die neue, ertrugen sie aber in stiller Geduld. Nicht die Tochter. Sie nahm nicht an der Jugendweihe teil. Sie bekam keinen Studienplatz. Sie unternahm 1977 ihren ersten Fluchtversuch. Sie wurde festgenommen, acht Wochen Haft. Sie stellte Ausreiseanträge. Weigerte sich zu arbeiten. Wurde 1979 wegen „Assozialität“ verhaftet und zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Im April 1981 durfte sie ausreisen. Sie ging nach Münster. Heiratete einen Politikwissenschaftler. Trat in die CDU ein.

Anni Bellers wäre nicht Anni Bellers, wenn sie jetzt nicht einen Aktenordner aus dem Schrank holen und den Beweis für ihr „nie Scheitern“ liefern würde. Eine vergilbte Quittung über 315,90 D-Mark und 330,57 DDR-Mark, datiert auf den 18. August 1977. Ihre Augen leuchten, die Hand zur Faust geballt. Sie erzählt. Wie sie an diesem Tag aus dem Leipziger Stasi-Knast entlassen werden sollte, aber nicht gehen wollte ohne eine Quittung über ihr beschlagnahmtes Geld. Sie setzte sich am Ausgang fest, sagte zu Mielkes Männern: „Sie haben mir das Geld geklaut.“ So etwas hatten die noch nicht erlebt.

Vielleicht muß man diese Geschichte gehört haben, um Anni Bellers verstehen zu können. Warum sie jeden Ost-CDUler erst einmal mißtrauend fragt: „Was hast du früher gemacht?“ Warum sie immer wieder sagt: „Es war der freie Wille eines jeden, in die CDU zu gehen und dadurch den Verbrecherstaat zu stabilisieren.“ In Thüringen freilich wollte niemand mehr, vier Jahre nach der Wende, mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Nicht die Bürger, die andere Sorgen hatten. Nicht die CDUler, die gerade einen Schlußstrich unter ihren Lebenslauf gezogen hatten.

1994 ist Anni Bellers nach Erfurt gekommen. Im Sozialministerium fand sie Arbeit. In der CDU wurde sie freundlich empfangen. Eine Frau! Eine aus dem Westen! Ein CDU-Mitglied! „Die Anni sprühte vor Ideen“, sagt Andreas Minschke. Später findet der Landesgeschäftsführer für die 45jährige nur noch Worte wie „besessen“. Besessen sei „die Anni“ vom Thema Blockflöten gewesen.

Zu kitten war bald nichts mehr. Ein Landtagsabgeordneter zog sie wegen Beleidigung vor das Parteigericht. Bellers kürzte ihren Mitgliedsbeitrag, statt fünfzig Mark zahlte sie nur noch fünf. Sie habe die „Blockflöte Kreisgeschäftsführer“ nicht mehr mitfinanzieren wollen. Bild am Sonntag entdeckte ihr Büchlein, nun ja, eine Art Tagebuch, und machte daraus die Schlagzeile: „CDU-Politikerin: Skandalbuch über Ostdeutsche“. Bundestagsabgeordneter Otto tobte: „Beleidigend. Arrogant. Herablassend.“ Ein Landtagsabgeordneter sprach von „Verachtung gegenüber den Ostdeutschen“.

Tatsächlich hatte Anni Bellers in ihrem Buch den Thüringern nicht gerade den Bauch gepinselt. Der Aufschwung Ost stocke, weil die Menschen lethargisch seien. Kontroversen seien unerwünscht, statt dessen werde sich in Harmonie geübt. Zivilcourage sei Mangelware.

Wieder war von „Wessi-Tussi“ die Rede und nun auch von „Rache-Engel“. Selbst eine gute Bekannte sagt: „Ihr größter Fehler war, in den Osten zu kommen mit der Einstellung: ,Ich saß im SED-Gefängnis und ihr wart nicht dort. Warum nicht?'“ Eine andere seufzt: „Wir konnten doch nicht alle in den Westen gehen.“

In diesem Jahr ist Anni Bellers zum zweiten Mal in den Westen ausgereist. Wieder Opfer? „Sehe ich aus wie ein lebendes Opfer?“, pflegt sie zu fragen. Eher wie ein hübscher Tornado, wenn man denn jemanden so beschreiben kann.

In der Erfurter CDU-Geschäftsstelle läßt Andreas Minschke seine Sekretärin nach dem Buch „der Anni“ suchen. „Sie hat mir doch sogar eine Widmung reingeschrieben.“ Freundliche Worte? Die Sekretärin findet es nicht mehr.

Statt dessen findet sich der Brief mit der Abmeldung aus der „Ost-CDU“. Darin hat Anni Bellers auch festgehalten: „Wer in enger sozialistischer Verbundenheit mit den SED-Oberen Kumpanei betrieb, hat heute kein Recht, die Fortsetzungspartei PDS anzugreifen.“

Das aber macht Minschke nur allzu gern. Er lobt die „Roten-Hände-Plakate“ von CDU-Generalsekretär Peter Hintze und berichtet genüßlich von einem Treffen mit Ministerpräsident Vogel (CDU) und Kultusminister Althaus. „Wir machen das Ding mit“, sei beschlossen worden, „weil das Plakat die SPD trifft.“ Schon seit geraumer Zeit schmust Thüringens SPD- Vorsitzender und Innenminister Richard Dewes mit der PDS.

Dennoch erscheint es heute mehr als unehrlich, wenn Thüringer Christdemokraten zu Hetzjagden auf PDSler und auf die „an allem schuldige SED-Nachfolgepartei“ blasen und dabei stets am jenem Keller vorbeirennen, in dem die eigenen Leichen liegen. Wenn sich Landesvater Vogel noch 1997 dafür ausspricht: „Es wird keine Rote-Socken-Kampagne geben“, dieses Jahr aber die „Roten Hände“ abnickt. Wenn Landesgeschäftsführer Minschke beteuert, nie mit einem PDSler Biertrinken zu wollen, und in der Kleinstadt Schmölln verteilen seine Parteifreunde gemeinsam mit der PDS ein Flugblatt, um einen SPD-Bürgermeister zu verhindern. Das macht unglaubwürdig.

Claudia May will in der CDU bleiben.

Am Erfurter Stadtpark bei den Geschwistern Claudia und Michael May. Der Fotograf fragt: „Wie sitzen Sie üblicherweise? Eher zusammengekauert?“ „Eher aufrecht!“, sagt Claudia May – und eigentlich ist damit alles gesagt.

Am späten Abend des 28. März 1961 sitzen die Kinder Claudia und Michael May, acht und elf Jahre alt, noch immer allein auf der Treppe vor ihrem Elternhaus in Erfurt. Noch immer sind Mutter und Vater nicht da. Gegen Mitternacht kommt Marga May nach Hause, in Begleitung von Polizisten. Die Wohnung wird durchsucht. Den Vater sehen die Kinder nie wieder.

Am Morgen war der Technische Angestellte Hermann May abgeführt worden – wegen Spionage, Propaganda, unerlaubtem Verlassen der DDR und Kontakten zur CDU in Westberlin. May, CDU-Mitglied, gilt als Staatsfeind und wird zu einer fünfzehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. 1965 wird er vom Westen freigekauft. Doch davon erfahren die Kinder erst nach Öffnung der Stasi-Akten.

Claudia May steht auf, geht zum Schrank, auch dort liegen unzählige Ordner mit Akten. Sie sucht ein Schreiben ihres Klassenlehrers Werner Krüger. „Die Schülerin lebte in äußerst ärmlichen Verhältnissen, die aus der andauernden Erkrankung ihrer Mutter und der Verurteilung ihres Vaters resultierten. Die Notsituation machte es erforderlich, die Schülerin mit täglichem Pausenbrot und mit getragener Kleidung zu versorgen.“

Es ist still geworden in der Wohnstube der Mays. Allein die Wanduhr klackt. Draußen rasen Autos vorbei. „Mischkus“, sagt Claudia May plötzlich zu ihrem Bruder Michael, „kannst du dich erinnern?“ Wie sie beide zu Felddieben wurden, Rüben klauten, um überhaupt etwas zu essen zu haben. Das schweißt zusammen.

Ihre Mutter hatte nie wieder Arbeit bekommen, nie finanzielle Unterstützung vom Staat. Nach langer Krankheit starb sie 1981. Claudia und Michael May mußten nach der achten Klasse die Schule verlassen. Alle Bewerbungen um eine Lehrstelle blieben erfolglos. Sie ging fortan putzen und half in Kindergartenküchen aus, er fand eine Hilfsarbeit als Lagerist und Transportarbeiter. Und immer wieder kamen Schreiben wie diese ins Haus: „Hiermit werden Sie aufgefordert, im Rat des Stadtbezirkes Süd der Stadt Erfurt zu einer Aussprache zu erscheinen. Sollten Sie dieser Vorladung keine Folge leisten, werden wir Sie zum nächsten Termin zuführen lassen.“ Claudia May sollte ihren Vater verleugnen. Sie wußte nicht einmal, wo er war. Hermann Mays Briefe aus dem Zuchthaus hatte die Stasi beschlagnahmt, ebenso die Briefe aus dem Westen, wo er seit 1965 lebte und wieder in der CDU aktiv war. Das Ostbüro der CDU in Westberlin bescheinigte 1967 seinem Mitglied „eine politisch einwandfreie Einstellung“ und befürwortete „die Weiterführung seiner alten Mitgliedschaft“ im Kreisverband Hannover. 1972 dankte man ihm für „25 Jahre treue Mitgliedschaft“ und überreichte ihm die „Ehrennadel der CDU Niedersachsen“. Die Thüringer CDU hat bis heute kein Wort über ihr ehemaliges Mitglied Hermann May verloren.

1972 hatte Claudia May Anstellung in einem privaten Betrieb gefunden. Ihr Chef setzte bei den staatlichen Stellen eine Berufsausbildung und ein Fachschulstudium als Diplombetriebswirt durch. Nun wurde auch er von der Stasi beobachtet.

Die Mays sprechen von „Existenzängsten“, und sie meinen nicht nur die Zeit vor der Wende. Seit acht Jahren kämpfen sie um ihre Rehabilitation. Die bundesdeutschen Behörden sollen anerkennen, daß ihnen vom DDR-Staat eine berufliche Karriere systematisch verbaut wurde. Im SED-Unrechtsbereinigungsgesetz klafft eine Lücke: Verfolgte Schüler sind nicht als Opfer anerkannt. Also können sie keine höheren Rentenbeiträge einfordern. „Wenn ich nur einen Tag einen Lehrvertrag gehabt hätte, wäre ich bessergestellt“, sagt Michael May. Lange Pause. Tiefe Furchen in den zarten Gesichtszügen der Claudia May. „Ich komme mir vor, als ob ich die DDR ein zweites Mal erlebe.“

Anfang des Jahres ist sie in die CDU eingetreten. Sie hatte die Worte des Kanzlers im Ohr, der ihr persönlich auf dem Erfurter Domplatz versprochen hatte, sich um die SED-Opfer zu kümmern. Viel ist nicht geschehen. Statt dessen sieht sie noch immer jene in „wunderbaren Positionen sitzen“, die einst mit der SED kooperierten. Statt dessen ist sie es, die immer wieder vor Gerichten beweisen muß, daß sie ein Opfer des DDR-Staates war.

Am 13. August diesen Jahres, dem Tag des Mauerbaus, als vor dem Checkpoint Charlie in Berlin CDUler gegen die PDS demonstrieren und sagen: „Es war ein Fehler, alle Ost-CDUler einfach so zu übernehmen“ – an diesem Tag äußert sich das CDU-Mitglied Claudia May im MDR- Fernsehstudio kritisch über Kanzler Kohl. Am Tag danach zeigen sich einige Kollegen im Ministerium pikiert, unerhört finden sie den Auftritt. „Man kann eben nicht erwarten“, sagt Claudia May, „daß jemand sagt: ,Es war unrecht, was ich getan habe'.“ Kann man das wirklich nicht?

Bert Bostelmann, 38 Jahre, fotografiert für die Münchner Agentur Argum. Sein Schwerpunkt sind Porträts.

Jens Rübsam, 28 Jahre, arbeitet seit zwei Jahren als Reporter bei der taz.