„Wir haben uns zu früh gefreut“

Die Zahl der Aidserkrankungen in Berlin ist innerhalb von zwei Jahren um ein Drittel gestiegen. Die Wirkung der gepriesenen Medikamente ist geringer als erhofft  ■ Von Jeannette Goddar

Die Zeit der Euphorie ist längst wieder verflogen. Statt mit einer echten Lebensperspektive habe man es „mit einem Wechselbad von Hoffnung und Angst“ zu tun, sagt Ferdy Lang von der Berliner Aids-Hilfe (BAH). Hatte man nach der vielversprechenden Welt- Aids-Konferenz in Vancouver 1996 kurzfristig den Eindruck, mit der Kombination von drei Medikamenten sei Aids zwar nicht zu einer heilbaren, aber zumindest zu einer behandelbaren Krankheit geworden, wird auch in Berlin immer deutlicher, daß das ein Trugschluß war. Nach Erkenntnissen der BAH hat die Zahl der Aidskranken in Berlin seit der Konferenz um ein Drittel zugenommen, und die Fälle werden komplizierter. „Wir haben uns zu früh gefreut“, sagt Lang, „1997 sind bei unserem Pflegedienst sieben Patienten gestorben; dieses Jahr sind es bis jetzt schon acht.“ Auch die Aids-Station im Auguste-Viktoria-Krankenhaus fülle sich wieder.

Angesichts des medienvermittelten Eindrucks, das Thema Aids habe sich zumindest in Westeuropa und den USA weitgehend erledigt, war die Stimmung unter den Besuchern der von den Grünen organisierten Veranstaltung über „Die Situation von Menschen mit HIV und Aids in Berlin“ erstaunlich schlecht. Größtenteils wurde über die Notwendigkeit von Hospizen bestimmt; auch ein Thema, über das man eigentlich schon lange nicht mehr reden wollte.

Deutlich wurde aber auch, wie sehr selbst in der Fachwelt die Einschätzungen der Behandelbarkeit auseinandergehen. Der Internist Hans-Dieter Heil wollte sich Langs pessimistischer Sicht nicht anschließen: Angesichts des strengen Medikamentenreglemets, das von den Patienten verlangt, täglich 20 Tabletten nach einem akribisch festgelegten Plan einzunehmen, seien die Erfolge nach wie vor enorm. Auch Heil warnte allerdings: Je mehr Medikamente auf dem Markt seien – zur Zeit sind es 12 –, desto unüberschaubarer werde auch das Dickicht von Wirkungen – und Nebenwirkungen. Vor allem letztere sind es, die den Patienten zu schaffen machen. Immer häufiger berichten Ärzte und Patienten nicht nur von Resistenzen gegen die Pillencocktails, sondern auch von unerträglichen Begleiterscheinungen wie dauernder Übelkeit oder Herzleiden. Aus der 3er-Therapie droht außerdem immer häufiger einer 4er-, 5er- oder 6er-Therapie zu werden.

Einig waren sich die Teilnehmer der Diskussion vor allem darin, daß auch eine schwierige soziale Situation zur Verschärfung des Gesundheitszustandes beiträgt. Sehr viele der 6.000 bis 8.000 HIV- Positiven in der Stadt leben von Sozialhilfe, weil sie keine Rente bekommen. „Immer mehr Leute sind hoch verschuldet“, erzählt Dieter Telge vom Landesverband der Selbsthilfegruppen, „viele haben schon vor Jahren ihr letztes Geld ausgegeben, weil sie dachten, daß ihnen eh nicht mehr viel Zeit bleibt.“ Mehr als die Hälfte der Aidskranken bittet die Deutsche Aids-Stiftung um Zuschüsse für Strom- oder Telefonrechnungen. Statt um Pflege und Behandlung geht es bei der Aids-Arbeit immer stärker um Sozialberatung und die mögliche Rückkehr in ein Leben, das sich nicht nur in der eigenen Wohnung abspielt.

Mit Geldmangel haben aber nicht nur HIV-Positive und Kranke zu kämpfen: Standen den Berliner Aids-Projekten 1996 noch 6,1 Millionen Mark zur Verfügung, waren es 1997 nur noch 5,5 Millionen. In diesem wie im kommenden Jahr werden jeweils weitere fünf Prozent gekürzt – obwohl wegen der verlängerten Lebensperspektive die Zahl der zu Betreuenden nachweislich zunimmt. „Der Entwarnungsmythos“, mutmaßte ein Teilnehmer der Diskussion, „ist offenbar zuallererst beim Senat angekommen.“