Zum Schreien drolliger Alltag

Wenn Fußnoten lehrreicher als das Großgedruckte sind und in der Kürze die Würze liegt. Arnold Höllriegel, Berliner Feuilletonist der 20er Jahre, ist neu zu entdecken  ■ Von Erhard Schütz

Es ist unheilvoll, Nachworte zuerst zu lesen. So erfährt man, daß Richard A. Bermann, der unter dem schönen Namen Arnold Höllriegel schrieb und auf den beigegebenen Fotos aussieht wie Mr. Moto, von seinen zahlreichen Reisebüchern ganz abgesehen über 400 Feuilletons geschrieben hat. Der vorliegende Band enthält aber bloß 32. Da will man gar nicht erst anfangen. Das ist wie Max Goldt mit einem Reclam-Bändchen ehren.

Immerhin versprach das Nachwort Repräsentatives. Man liest also doch. Die Texte reichen von 1910 bis 1932, vom Neopathetischen Cabaret zum frühen Kino in Berlin, dann Wien, wo die Tante von Lenin und gebratenen Rebhühnern schwärmte, über Hollywood, in dem schon damals Fußgänger verdächtig waren, Familienleben im Jazz-Zeitalter, zurück nach Berlin, das Sechstagerennen und keine Zeit für einen richtigen Kaffee hatte, bis zu einem Putsch im Paradies Madeira, der zum Menetekel der kommenden Jahre wird. Unter einem Pseudonym war der 1883 in Wien Geborene im Vorkriegsberlin als Feuilletonist höchst populär geworden. Das Berliner Tageblatt, für das vor allem er schrieb, schickte ihn nach dem Krieg auch auf Reisen – Palästina, Südamerika, Hollywood, Afrika, in den Sudan oder nach Libyen (zusammen übrigens mit dem als „Englischer Patient“ verfilmten Almásy). Seine Bücher darüber waren beliebt wie die Feuilletons.

Die Herausgeber zitieren aus dem Nachruf, den Leo Perutz auf den 1939 im amerikanischen Exil gestorbenen Höllriegel hielt: „Diese Kunst, in dreißig Zeilen einen Einfall, einen Gefallen zur vollen Entfaltung zu bringen, war damals etwas völlig Neuartiges.“ Das ist erklärlich aus der Nostalgie des Exilierten, dennoch aber Quatsch. Das Berliner Tageblatt hatte z.B. den längst berühmten Victor Auburtin. Wie dieser beherrschte Höllriegel einfach die kleine Form, der, so Höllriegel, „die Fußnoten lehrreicher als das Großgedruckte“ waren. In Fußnoten jeglicher Bewegungsart unterwegs, ein notorisch Reisender, auch zu Hause. (Nur, wo war das?) Immer auf dem Sprung, darum so genau beobachtend: Inventarisierung des Verlassenen, Witterung im Unbekannten. Liest man das heute, entstehen ganz eigentümliche Aktualitätsüberblendungen.

Jakob van Hoddis, der dem Bürger vom spitzen Kopf den Hut fliegen ließ, prophezeite er bei dessen neopathetischem Auftritt 1910, er werde später wohl „Kommerzien-, Justiz- oder Sanitätsrat werden“. Daß ihn die Nazis umbringen würden, hat er genausowenig geahnt wie den fatalen Schlittschuhlauf von Georg Heym, von dem er schrieb, „sein Nachruf sei hiermit begründet“. Dafür glossierte er die erste künstliche Insemination 1912 mit ebenden Argumenten, die man heute zur Klonierung hört. Um anzumerken: „Auf dieser Welt der Menschen geschieht nichts, was gegen den Geist der Menschen ist. Was aber im Geiste des Menschen ist, das wird in die Welt der Dinge prophezeit, es wird Ereignis.“ Auch der Krieg.

Auch der Film, den er schon ganz früh liebevoll beobachtete. Er sieht darin die großartige Volksbelehrungsunterhaltung, wiewohl er gegen die Autorenfilme ist. Der Film solle bleiben, was er sei, „ein herrliches Surrogat, eine vortreffliche Programmnummer, ein herrliches, szenisches Hilfsmittel“. Ein verdecktes Selbstbild des Feuilletons.

Man möchte überhaupt nur zitieren. Sein Kabinettstückchen darüber, wie einen Aktienbesitz verwandelt, oder über den Kommunismus seiner Tante. (Hätten jene Maoisten von ehedem, die heute den Antiliberalismus verfolgen, als stünden die Roten Garden hinter ihnen, sich nur so schnell bekehren lassen!) Oder Höllriegel über das „amerikanische“ Berlin.

Ein Pointenkopf mit Vergrößerungsaugen. Seine Lehre: „Sich's klar machen, das ist ein reizvoller Sport, den ich empfehlen möchte. Das alltägliche Leben ist nur deswegen so ungemein langweilig, weil wir es so wenig beachten; es ist aber zum Schreien drollig und zum Heulen tragisch, wenn wir es uns klar machen.“ Das und noch mehr machen seine Texte klar. (Und außerdem ist's ein schönes, sorgfältiges Selbstlese-Geschenk-Buch. Es hat nur den kleinen Mangel, daß es keine Kommentierung, und den großen, daß es noch keinen zweiten Band gibt.

Arnold Höllriegel: „In 80 Zeilen durch die Welt. Vom Neopathetischen Cabaret bis nach Hollywood“. Transit Verlag, Berlin 1998, 127 Seiten, 28 DM.

15.9., ab 20 Uhr, Lesung im Podewil, Ausstellung in der Staatsbibliothek Unter den Linden.