Ein Alptraum wartet auf Kundschaft

Der 33jährige Michael Talke ist der einzige Nachwuchsregisseur der Berliner Volksbühne. Sein Konzept „Suchen mit Leuten, die man mag“ lehnt Ost-Politisierung ebenso ab wie West-Erklärungsdrang. Jetzt inszenierte er Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“  ■ Von Petra Kohse

Gerade im kleinsten kennt man sich oft im eigenen Leben nicht aus. Weil der Urlaub vorbei ist, zieht man sich schon herbstlich an und hört dann Gäste aus Hannover den Berliner Spätsommer loben. Dann wieder bekommt man von Christoph Schlingensief einen Du- wirst-Glück-haben-wenn...-Kettenbrief gemailt, gefolgt von der Mitteilung, daß dieser Kettenbrief nicht von Christoph Schlingensief stammt. Und wenn man Fassbinder beim ganzen Namen nennen will, kommt nicht selten Rainer Maria heraus.

Das winzige Programmbuch, das die Volksbühne zu ihrer ersten Premiere herausgegeben hat und das den Kollegen Christian Semler in Format und Aufmachung an die maoistischen Broschüren der 60er Jahre erinnert, tut das Seine, um die Wahrnehmung für derlei Dinge zu schärfen. Hell- auf dunkelrosa finden sich außen die Gesichtszüge von Rainer Werner und innen erst ein Zitat von Frank Castorf und dann zwei Briefe des Studenten Thomas Thebert (Name geändert). Botschaften aus der Welt der Zwangsvorstellungen, in der taz-Artikel über gesundheitsschädliche Parkettböden als schicksalhafte Offenbarungen und beiläufige Gesten von Kommilitoninnen als sexuelle Drohgebärden erscheinen.

Während die hysterische Deutung des Alltags hier aber letztlich doch zu einer Versicherung der eigenen Existenz führt, ist Elvira Weisshaupt, auf deren Schicksal das Programmbuch verweisen will, den sie umgebenden Zeichen hilflos ausgeliefert. Elvira Weisshaupt ist die transsexuelle Hauptfigur aus Fassbinders Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ von 1978. Aus Liebe zu einem Mann läßt sich der Schlachter Erwin Weisshaupt – verheiratet, ein Kind – geschlechtsumwandeln, findet die Geborgenheit, die er schon als Kind (Waisenkind!) ersehnte, trotzdem nicht und bringt sich am Ende um. Ein deprimierender Stoff, den Michael Talke fürs Theater adaptierte. Die Premiere war am Mittwoch im Prater der Berliner Volksbühne.

Talke, dem die Ehre einer Spielzeiteröffnung zuteil wurde, während Castorf selbst in Basel die Oper „Othello“ herausbringt, ist 33 Jahre alt und alleinamtierender Nachwuchsregisseur des Hauses. In Mainz geboren, hat er in München studiert und ist bei der Neugründung der Volksbühne als Regieassistent nach Berlin gekommen. Er blieb bis 1996. Im Jahr danach zeigte er seine erste eigene Arbeit im Prater: „Ums nackte Leben“ nach dem Drehbuch zu „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ von Horace McCoy.

Das war ein wunderschönes Arrangement dreier Marathontanzpaare, ihrer Krisen und Sehnsüchte, voll Ernst und Ironie und Traurigkeit. Beste Volksbühnen- Choreographie mit erstklassigen Darstellern – Matthias Matschke, Kathrin Angerer, Olivia Grigolli –, aber ohne Parole und These. Es ging einfach darum, daß und wie ein Miteinander funktioniert oder nicht. Auch „In einem Jahr mit 13 Monden“ handelt vom zwischenmenschlichen Kontakt beziehungsweise davon, daß es ihn nicht gibt oder nicht wirklich oder nie lange. Talke erzählt das, indem er auf der Bühne fast ausschließlich die ratlose Leere zeigt, die daraus resultiert.

Mit weißer Vorbühne hat Barbara Steiner einen breiten Glaskasten gebaut, in dem die Figuren des Films in Unterwäsche sitzen und warten. Animiermädchen und -männer vor silbernem Lametta, aber ohne Kundschaft. Es kommt keiner. Die Nutte Zora, gespielt von Astrid Meyerfeldt in Ingrid- Caven-Maske, oder Bernhard Schütz in Volker Spenglers Rolle der Elvira mit prallem Hüft- und Büstenhalter müssen selbst herauskommen, um ein bißchen Leben zu simulieren, was aber nicht gelingt. Die dunkel geblökten oder geflüsterten Passagen, starre und langsame Überdeutlichkeit von Bewegungen erinnern viel eher an einen Alptraum. Fassbinders Traum vom Tod der Elvira Weisshaupt? Talkes Traum vom Tod des R.W. Fassbinder? Des Publikums Traum vom Tod des Theaters?

Das Premierenpublikum mochte diese melancholisch-fragende, dann wieder momentweise tolpatschig-lustige Arbeit, während sich die zahlreich erschienenen Kritiker eher zu wundern schienen. Von einer Fassbinder-Inszenierung der Volksbühne hätten sie vielleicht eine politische Positionierung erwartet. Schließlich befindet sich Berlin derzeit in der Kontroverse um die Aufführung eines anderen Fassbinder-Stückes mit teils ähnlicher Personnage: „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Das Maxim Gorki Theater hat es auf dem Spielplan, die Jüdische Gemeinde findet es antisemitisch.

Nun ist Erwins Liebe, ein mächtiger und verhaltensgestörter Frankfurter Immobilienmakler, zwar nicht eindeutig jüdischer Herkunft, aber er war in Bergen-Belsen, wird betont, und leitete später einen Puff wie ein KZ. Doch Michael Talke interessieren derlei Implikationen nicht. In seiner Arbeit hört man eher die Sprache Funny van Dannens, wenn auch ohne anheischende Kindlichkeit – „Vor dem Tresen, hinterm Tresen, überall sind Lebewesen...“

Volksbühnentheater mit menschlichem Antlitz also, doch trotzdem mit dem Pop-Appeal der neuen Nachlässigkeit und der Freiheit, das Menschliche immer wieder auf seine Comichaftigkeit zu untersuchen. Ist Talke die next generation der Volksbühne oder trotz aller ästhetischen Prägung ein Fremdkörper? Brückenkopf des westlichen Subjektivismus im Panzerkreuzer des Ostens? Er neigt zu der zweiten Annahme (was die erste nicht ausschließt).

Was mir zu Anfang nicht so auffiel, weil ich auch meine Anti- Atom-Kraft-Hausbesetzer-lila Halstuch-Identität einbringen konnte, ist, wie stark die Arbeit hier noch immer vom Osten lebt. Von einer antikapitalistischen Kalten- Kriegs-Haltung, die für mich nicht existiert, weil ich erstens jünger und zweitens im Westen sozialisiert bin. Das kann ich nicht übernehmen, ich habe keine radikal systemkritische Haltung, die ich vor mir hertragen könnte.

Was für eine Haltung hat er denn? Und wie fängt er, ohne Haltung, an zu arbeiten?

Ich suche. Und dabei setze ich mich hysterischen Krisen aus. Ich bin keiner, der sagt: Hey, hier komme ich, und ich mache euch das mal. Mir liegt an dem Medium Theater, aber auf ganz unbestimmte Weise. Mir liegt daran, daß ich da unten sitze, und oben steht jemand, und das findet in diesem Moment statt. Ansonsten bin ich rezept- und ansatzlos. In den 80ern haben sich noch alle ganz ernsthaft mit den Klassikern auseinandergesetzt. Heute aber stimmt das ganze Repertoire nicht mehr. Alles entsteht bei der Arbeit, oder es entsteht eben nichts. Das Material muß man selber finden.

Liegen seinen Inszenierungen deswegen Filmstoffe zugrunde?

Nein, ich würde auch ein Stück machen. Es hat sich aber keines aufgedrängt. Es ist ja schwer, überhaupt noch eine Setzung vorzunehmen. Keiner kennt sich aus. Es gibt zwar immer noch Leute, die glauben, sich auf Biegen und Brechen positionieren zu müssen, aber die irren sich, daraus entsteht nichts.

Und woraus entsteht etwas?

Daraus, nicht aufzugeben. Aus dem Probieren. Aus dem Suchen mit Leuten, die man mag. Es ist völlig gleichgültig, in welcher Form man was erzählt, wenn nur die Konstellation stimmt.

Entsprechend gefällt Michael Talke Schlingensiefs Satz vom „Scheitern als Chance“ wesentlich besser als Rudi Dutschkes „Ich bin gesund, und ihr seid krank“. Voller Selbstzweifel, aus deren ironischer Brechung er aber dann doch wieder Kraft schöpft, hat er drei Tage vor seiner eigenen Premiere auch eine Aufführung von Mark Ravenhills „Handbag“ im Berliner Renaissance-Theater besucht, um zu sehen, ob dieser boulevardhafte Milieurealismus, der derzeit so hoch im Kurs steht, „nicht doch recht hat“. Nach der Pause konnte er erleichtert wieder gehen.

Zu „Handbag“ erschien der überzeugte Jeansjackenträger Talke übrigens in einem ordentlichen Jackett und entlarvte damit so selbstverständlich wie subtil das Reaktionäre an dem angeblich hippen Brit-Event, in dem Underdogs im Grunde bloß nach Familie suchen. Die Erkenntnis, daß sich Sehnsucht so nicht wegorganisieren läßt, läßt Talke im Westen unversehens als Ostler erscheinen.