Die Spekulanten

Einst wollten sie Sieger machen. Doch bei dieser Wahl reicht den Hamburger Meinungsmachern die stille Hoffnung  ■ Von Josef Otto Freudenreich

Das Sturmgeschütz der Demokratie rückt auf acht Beinen an. Zuerst die Politikchefs, dann der stellvertretende Chefredakteur und am Schluß der Chef selbst. „Mein Name ist Aust“, sagt er, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, weil man ihn kennt. Vom Fernsehen her, wo er mit strenger Miene sein „Spiegel TV“ moderiert, und natürlich vom Spiegel, wo er seit vier Jahren an der Spitze steht. Das Amt, das Stefan Aust innehat, gilt als eins der wichtigsten im deutschen Journalismus.

Macht er jetzt auch den Kanzler, der Herr Aust? Allein die Frage scheint degoutant. „Wir lassen uns vor niemandes Karren spannen“, wehrt er ab. Sein Magazin mache keine Politik, es schreibe darüber. Aus. Punkt. Feierabend. Und der Gerd Schröder, dem er seit Jahrzehnten nahe ist, mal bei einer gemeinsamen Kuba-Reise, bei der Hochzeit mit Doris oder beim Geburtstag des Intendanten Flimm? Nix da. Einen Titel, wie ihn der Stern produziert hat („Schröder, treten Sie an“), den könnte man bei ihm lange suchen. Würde er den Gerd sonst, wie er es getan hat, beim Thema Lauschangriff anrufen und fragen: Bist du ein Teil der Lösung oder des Problems. Bei aller Freundschaft: Wenn er etwas gegen Schröder in der Hand hätte, was ihn um das Amt brächte, betont Aust, er würde es drucken. Ganz sicher.

Das verwirrt den Besucher. Zum einen hält sich bei manchen hartnäckig das Gerücht, der 52jährige Journalist sei ein Linker. Zum anderen hat Herausgeber Rudolf Augstein früher immer gesagt, der Spiegel sei ein im Zweifel linkes Organ. Richtig ist, daß Aust in frühen Jahren bei Konkret und „Panorama“ gearbeitet hat. Wahr ist aber auch, daß er schon damals, und darauf legt er Wert, „nie den Standpunkt der Arbeiterklasse eingenommen hat“, was ihm Klaus-Rainer Röhl, der Konkret- Herausgeber und Gatte von Ulrike Meinhof, stets verübelt hat. Röhl schreibt heute auf der rechten Außenbahn für Springers Welt am Sonntag, Aust hat sich solche „Irrwege“ erspart. Fragte man ihn nach seiner persönlichen Meinung, würde er für eine sozialliberale Koalition plädieren.

Der Spiegel ist längst kein Kampfblatt mehr, keines, das mit Wucht für oder gegen jemanden in den Ring steigen würde. Die Kampagnen für Willy Brandt und gegen Franz Josef Strauß – heute undenkbar. „Die Menschen mögen das Grobkörnige nicht mehr“, meint Aust, und zielt damit auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die gemeinhin als Ausdifferenzierung beschrieben wird. Bezogen auf den Medienbereich heißt das ganz einfach, daß der Mensch ein Zapper geworden ist, der anklickt, was ihm in den Kram paßt. Eine Kampagne ermüdet ihn sehr schnell, insbesondere dann, wenn sie erfolglos ist. „Kohl kaputt“, ein Titel der 80er Jahre, würde Aust nie einfallen. Über solche Schlagzeilen, berichtet die kleine Redaktionskonferenz, lachen sie heute. Heute sind sie Achselzucker inmitten einer Leserschaft von Achselzuckern.

Wen hat Augsteins Sturmgeschütz heute noch im Visier? Schwierig zu sagen, weil alles doch so beliebig geworden ist. Weil keiner mehr weiß, wo im Koordinatensystem rechts und links ist, wie der Spiegel-Chef meint: „Oder war die Stasi links?“ fragt Aust, dem beim Blick über Kimme und Korn das Ziel verschwimmt. Stolpe okay, Gysi gut, und natürlich der ewige Kanzler, der nur noch anödet. Er soll weg, das ist der kleinste gemeinsame Nenner, und Georg Christoph Lichtenberg der philosophische Überbau: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“ Aust nennt dies seine „Grundposition“.

Grüblerisch verlassen wir sein Büro im elften Stock, um ein paar Straßenecken weiter einen anderen Grübler zu treffen, dem wir bestellen sollen, er sei eine „echte Bereicherung für die Stadt“. Es ist Roger de Weck, der Chefredakteur der Zeit. Auf seinem Schreibtisch stehen eine Cola light und ein Strauß Sonnenblumen, den er von seinen Mitarbeitern zum Einjährigen bekommen hat. Der Schweizer Bankierssohn hat wenige Tage zuvor mit einem Kohl-Interview für Aufsehen gesorgt, weil es das erste seit Jahren war, das der Kanzler einem der Hamburger Wochenblätter gegeben hat. Nun war der 45jährige zwar beeindruckt von der Vitalität Kohls, aber gestört hat ihn, daß sein Interviewpartner „mehr Bilanz als Perspektive“ vorgestellt hat. Auch deshalb wird er wohl keinen Leitartikel „Kohl muß bleiben“ schreiben. Was aber dann? Ja, wenn er das nur wüßte. Seine Redaktion ist unentschieden, die eine Hälfte will Rot-Grün, die andere eine große Koalition. Er selbst möchte eine Wahlempfehlung für die „Partei der Erneuerer“ aussprechen, aber die Modernisierer sieht er in allen Parteien genauso wie die Betonköpfe. Da ist guter Rat teuer, und er kommt auch nicht von seinem Herausgeber Helmut Schmidt. „Wenn einer über den Dingen steht, dann er“, sagt de Weck. So wird er schauen, wie er seinen Zweifel und sein Zögern in einen Ratschlag für die Leser umsetzen kann, wobei ihm das fast körperliche Pein zu bereiten scheint.

Was ist bloß los in den Hamburger Schreibstuben? Gibt es keine scharfzüngigen Kommentatoren, keine Wadlbeißer, keine Büchsenspanner, die nach einer weiteren Kerbe auf ihrem Griffel lechzen? Wenigstens Werner Funk, der Rüpel der Branche, denken wir, müßte helfen können. Wer den Chefredakteur des Stern besucht, erwartet eigentlich, daß er eine Sense auf dem Schreibtisch liegen hat, aber in Wahrheit liegt dort nur eine große Schachtel AspirinC. Möglicherweise ist es sein sensationeller Plan, der ihm Kopfweh macht: Der Stern will Kohl. Nicht zum Kanzler, sondern zum Interview, und das, grient Funk, sei ein ziemlicher Alptraum. Aber es schiene dem 61jährigen fürs Blatt gut, weil dann endlich der Boykott gebrochen wäre. Helmut Kohl – eine Zierde für den Stern, wer hätte das vor kurzem noch gedacht.

Und was ist mit Schröder? Selbstverständlich soll der immer noch Kanzler werden. Lange genug hat er ihn befördert und Lafontaine niedergehalten. Aber glaube niemand, Funk hätte dies aus Überzeugung getan. Ihm geht es um verlorengegangenen Einfluß und Auflage. 16 Jahre Kohl hieß eben immer, 16 Jahre einer der Finsterlinge von der Alster zu sein. Schröder hieße direkten Zugang zur Machtzentrale, zu seiner Entourage, zu exklusiven Geschichten – wenn der Niedersachse nicht am Ende Focus bedient. Schon heute beschwert sich dessen einstige Mitarbeiterin Doris Köpf beim Stern über unvorteilhafte Bilder ihres Gatten. Das mag Funk so wenig wie den Vorhalt, ein Schröder- Blatt zu sein. „Einen flammenden Aufruf für ihn würde ich nie schreiben“, sagt er. Was er will, ist eine rot-grüne Koalition, weil die wieder Leben in die Bude bringen würde. Dann kracht's in CDU und FDP, und dann, so glaubt er, lesen die Leute wieder politische Geschichten und seine Illustrierte, die dann ganz arg politisch wird.

Aufbruch gleich Auflage – dieser Gedanke elektrisiert auch Manfred Bissinger, den Chefredakteur der Woche. Seine Zeitung hätte Leser dringend nötig, wobei man nicht gleich so weit gehen muß wie Funk, der dem defizitären Blatt den Tod voraussagt, wenn Spezi Gerd nicht gewinnt. Wahr ist, daß Bissinger, der vehement dementiert, Schröders Medienberater zu sein, dem „guten Politiker“ so nahe wie kein anderer Journalist ist. Selbst Freund Aust, der in seinem Forsthaus gerne Spaghetti für den Manfred (der Jahre nach Aust einst Konkret dirigierte) kocht und öffentlich kein Sterbenswörtchen über ihn sagt, bezeichnet seinen Nachbarn als Teil des sozialdemokratischen Milieus. Nur Bissinger selbst nimmt alles ganz anders wahr. Nicht er mache die meisten Schröder-Geschichten, meint der 57jährige, sondern der Spiegel, und im übrigen sei der Funksche Vorhalt, die Woche sei ein SPD-Verkündungsblatt völlig absurd, ja eine „nachgerade schreckliche Vorstellung“. Je größer die Nähe zu Schröder, so scheint's, desto wortreicher werden die Versuche, sich abzugrenzen.

Bleibt am Ende nur die Frage, wo eigentlich der wichtigste Hamburger mitten im Wahlkampf ist? Rudolf Augstein, die Ikone des politischen Journalismus. Der 74jährige lebt in Südfrankreich und wird sich demnächst in den Louvre begeben. Dort wird er sich hinsetzen und eine Zeitung vor den Kopf halten: die FAZ.