Aggregatzustand der Seele

Von der wilden Widerstandsinsel zur wohltemperierten Werktreue: Frank Castorf inszeniert in Basel Verdis Oper „Otello“ mit erstaunlicher Zurückhaltung  ■ Von Frieder Reininghaus

Der erhöhte Guckkasten öffnet sich. „Es ächzt das Universum.“ Der Sturmmusik, mit der Giuseppe Verdis späte Oper „Otello“ aufbraust und die von den unbeherrschbaren Naturgewalten das Augenmerk auf die Unbeherrschtheit des Menschen richtet, dieser furiosen Introduktion läßt Julia Jones in Basel schier überbordende Orchesterbrecher und krachende Kraftentladung zuteil werden. Vor gut zehn Jahren war die junge englische Korrepetitorin nach Köln gekommen, dann Kapellmeisterin in Ulm und Darmstadt geworden. Nun ist sie Chefdirigentin am Theater Basel – ein Glücksfall.

Gestützt auf ein junges Sänger- team, entwickelt Jones die „Otello“-Lineatur mit Klarheit und dramatischer Wucht, die sich exemplarisch im Final-Duett des zweiten Akts entlädt, in dem der Tenor Albert Bonema als siegreich aus der Schlacht und den Fluten zurückgekehrter dunkelhäutiger Söldneranführer und der voll unstillbarem Ehrgeiz erfüllte Bariton Brian Montgomery als Offiziersanwärter Jago aufeinandertreffen.

Dieser Jago versteht sich mit treuherziger Jovialität und entschiedener Stimme in das Vertrauen des nach den Siegen in ein psychisches Vakuum fallenden Helden zu schleichen – und bedeutet das Verderben. Das aber liegt letztlich in Otellos Triebstruktur begründet: in der unbeherrschbaren Eifersucht, welche die Gattin Desdemona in Gestalt und mit dem lichten Sopran von Iano Tamar doch auf die umsichtigste und anrührendste Weise zu beschwichtigen trachtet. Da sitzt sie kurz vorm bitteren Ende – nicht auf der Bettkante, wie es üblich ist – an einem fein gedeckten Tischchen mit der zweifelhaften Freundin Emilia, Jagos Frau, bei Spaghetti und Rotwein: nimmt Abschied von dieser Welt und noch einmal Zuflucht bei gläubig-intensivem Religioso.

Der Inszenierungswille von Frank Castorf hält inne vor der Dynamik und dem Beziehungszauber der Musik. Auch Freunde einer „werktreuen Interpretation“ werden der ersten Opernregie des Berliner Volksbühnenleiters konzedieren müssen, daß er kaum gegen den Geist Boitos und Verdis verstieß – außer vielleicht mit ein paar Marginalien. Es ging Castorf darum – und gelang ihm –, die fortdauernde Virulenz, die Gewaltförmigkeit freigesetzter Emotion herauszuprozessieren. Gerade jene Eifersucht und jenen Haß, die er selbst biographisch erfahren zu haben scheint: Nach der Wende predigte er den Ausbruch aus dem „kleinbürgerlichen Geistesland“ und wünschte der vereinigten Bundesrepublik notfalls neue „Stahlgewitter“ an den Hals oder über den Kopf, kokettierte mit „faschistoiden Gedankengängen“.

Nun aber, gestützt auf den klugen Dramaturgen Albrecht Puhlmann und die geschickt zwischen Historie und Gegenwart changierende Ausstattung von Bert Neumann, nahm er sich der Exegese eines Stücks an, hinter dessen historischer Folie tatsächlich auf so bestürzende Weise Aktuelles sichtbar werden kann: Heute funktionierende Mechanismen und keinesfalls überwundene Aggregatzustände der Seelen. Der Chor, ausstaffiert wie zur Oratorienaufführung, tritt noch einmal als Referent kollektiver Erfahrungen und Absichten auf – leicht ironisch gebrochen durch die zwanghaften Blicke in die Neue Zürcher Zeitung.

Die spätmittelalterliche Welt, in der Shakespeare die Tragödie ansiedelte, scheint durchaus auf in den Roben, Rüstungen, Zinnen und Brüstungen, hinter denen ein rascher Wind die Wolken vorbeijagt. Aber die Vorhänge mit der Erinnerung an das Frühere werden weggezogen, die Kostüme abgelegt: und es kommt mit den nüchternen Metallgerüsten der Podien und Tribüne die seelische Blöße der Helden zum Vorschein: die Schäbigkeit des Verrats, zu dem Castorf nach eigenem Bekunden ein so emphatisches Verhältnis pflegt. Und der des tragischen Protagonisten Otello, der sich am Ende keinen anderen Weg weiß, als der Partnerin wegen vermuteter Untreue eine Plastiktüte über den Kopf zu streifen. Desdemona scheint das zu überleben. Der dunkelhäutige Otello aber, politisch und beruflich tief gefallen, gebärdet sich nicht länger wie ein wildes Tier (als das ihn schon Ruth Berghaus vor vier Jahren in Zürich in einer Manege bändigte), sondern verkriecht sich auf eine Bank und verendet still. Er singt ja wirklich, wenn man es wörtlich übersetzt, stammelnd: „ ... im Schatten ... in den ich sinke“. Und erinnert sich der Küsse.

Aber ach, alles Erinnerung nur mehr. Die Crew hat sich unterdessen längst von ihm ab- und der blutig-nackten Medienrealität zugewandt, die auf dem rasch hereingefahrenen Bildschirm daherflackert. Castorf zeigt Otello als historische Figur, die ausgedient hat. Aber er demontiert seine Oper nicht, denunziert sie nicht billig. Sondern führt sie vor als ein Werk, das wegen seiner Historizität und wegen des Pathos der Sprache obsolet wurde – und dennoch an die Nieren gehen kann.

Von den erhabenen Worten ist, da die internationale Sängermannschaft ein ziemlich unverständliches Italienisch singt, kaum etwas zu verstehen. Castorfs Gesten aber weisen eine nachvollziehbare Richtung.