Jedem Pharao seinen Tempel

Ägypten hat zwei Probleme: Zuwenig fruchtbares Land und ein zu schnelles Bevölkerungswachstum. Bisher drängt sich das Gros der Menschen im engen Niltal. Abhilfe schaffen soll ein künstlicher Nebenarm des Nil. Achthundert Kilometer Kanal sollen die Wüste bis zum nächsten Jahrhundert urbar machen – allen ökologischen und finanziellen Bedenken zum Trotz. Aus Kairo  ■ Karim
El-Gawhary

Er soll die Pyramide des 21. Jahrhunderts werden. Den Eindruck zumindest vermitteln Politiker und Medien vom Toschkakanal, dessen gigantisches Bett drei Autostunden südlich der Stadt Assuan sich seit Anfang letzten Jahres langsam in die westliche Wüste frißt.

Mit dem künstlichen Nilarm will Ägypten eines erreichen: mehr Siedlungsraum. Über sechzig Millionen Menschen drängen sich heute in der Enge des Niltals auf einer kultivierbaren Fläche nicht viel größer als Baden-Württemberg – zuwenig bei einem Bevölkerungswachstum von einer Million Menschen pro Jahr. Was liegt da näher, als der Wüste, die über neunzig Prozent der Fläche Ägyptens ausmacht, weiteren bebaubaren Boden abzutrotzen?

Seit über zwanzig Jahren prüfen Experten des Kairoer Bewässerungsministeriums die Möglichkeiten eines künstlichen Nilarms, seit gut zehn Jahren diskutieren auch die Medien das „Neue Tal“. Ende letzten Jahres hat dann der ägyptische Präsident Husni Mubarak den Baubeginn abgesegnet.

Geplant ist, bis ins erste Viertel des nächsten Jahrhunderts einen achthundert Kilometer langen Kanal zu baggern, der vom Assuanstausee bis zu den westlichen Oasen reichen soll. Mehr als zwei Millionen Feddan, eine Fläche etwa halb so groß wie das Bundesland Hessen, sollen dann ständig bewässert werden. Neue Städte sollen entstehen, manche der Ingenieure vor Ort sprechen gar von einer neuen Zivilisation. In den nächsten vier Jahren sollen siebzig Kilometer Hauptkanal und vier Seitenarme fertiggestellt werden. Auf einer Fläche von 200.000 Hektar soll dann die Wüste blühen. Bisher besteht die „neue Zivilisation“ allerdings nur aus mehreren Dutzend Containerhütten und Fertigbauhäusern für die 2.300 Ingenieure und Arbeiter der Großbaustelle. Deren einsame Arbeitsstelle erinnert an eine Ölplattform im eisigen Alaska oder Sibirien, nur eben im anderen Extrem.

Wer sein klimatisiertes Büro verläßt, dem schlägt der Wüstenwind wie ein Heißluftfön entgegen. Temperaturen von über fünfzig Grad im Schatten sind normal. Der Assuanstausee wirkt da deplaziert in der unwirtlichen Wüstenlandschaft.

Dort, wo einmal die größte Pumpstation Afrikas täglich 25 Millionen Kubikmeter Wasser in den Nilkanal pumpen soll, klafft derzeit eine riesige Baugrube. Während ein paar hundert Meter entfernt das Wasser des Assuanstausees in der Mittagshitze vor sich hindunstet und die Luft zum Flimmern bringt, wirbeln ein halbes Dutzend überdimensionale Bulldozer im unteren Teil der Baugrube Staub auf bei dem Versuch, sich langsam über eine Tiefe von fünfzig Meter auf die Ebene des Sees herunterzubuddeln. Mehr als zehn Monate dauert allein das Ausheben der Baugrube. Am Ende werden drei Millionen Kubikmeter Sand von einer Stelle in der Wüste zu einer anderen geschoben worden sein.

Midhat Sorial arbeitet als Ingenieur für die private Firma, die für das Graben an dieser Stelle angeheuert wurde. Wenn er nicht gerade in seinem klimatisierten Wohncontainer arbeitet, fährt er mit seinem allradangetriebenen Kleinlaster rund um die Baustelle, um seine Arbeiter zu überwachen.

Jeweils 45 Tage verbringt er auf der Baustelle, bevor er für eine gute Woche zu seiner Familie nach Alexandria fliegt, um auszuspannen. Das Leben hier sei eintönig, sagt er. Manchmal fährt er in seiner freien Zeit mit dem Boot fischen, mit dem draußen auf dem Stausee Probebohrungen vorgenommen werden. Nach schweißtreibender Arbeit geht hier keiner im See schwimmen. Vor einem halben Jahr hatte ein Krokodil einen Arbeiter, der sich im See waschen wollte, ins Wasser gezogen. Der Arbeiter oder irgendwelche Überreste von ihm wurden nie wieder gesehen.

Mit allerlei ungesundem Getier hat auch der Landwirtschaftsingenieur Ramadan Guma'a zu kämpfen. In der am Ufer gelegenen Gärtnerei hat er in den letzten Monaten bereits sieben Giftschlangen erschlagen. Der Nubier kam hierher gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück. Das nubische Dorf Jerf Hussein, in dem er aufgewachsen ist, ist unter den Fluten des Stausees verschwunden. Er mußte mit seiner Familie nach Norden auswandern. Jetzt ist er hier, nicht nur, um kurzfristig seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern um sich vielleicht später auf einer kleinen Farm niederzulassen.

In dem Freilandversuchslabor züchtet er nun, was hier später die Wüste begrünen und ihre Bewohner ernähren soll. Spezielle Bananenstauden mit geringem Wasserverbrauch, gezüchtet in einem ägyptischen Wüstenforschungsinstitut, gehören ebenso zu Guma'as Sortiment wie ein Feld mit Ingwer, das einzige im ganzen Land, wie er stolz betont. Importiert wurden die Pflanzen aus Indien. „Wir wollten einfach einmal etwas Neues ausprobieren, und Ingwerpflanzen sind nicht nur hitzebeständig, sondern verlangen geradezu nach grellem Sonnenlicht.“ Auch die exotischen Bäume des Waldes, den Guma'a am Ufer angelegt hat, bisher nur wenige Zentimeter groß, wurden aus Burkina Faso und dem Benin importiert. Neben verschiedenen Pflanzen experimentiert die Gärtnerei auch mit unterschiedlichen Bewässerungsmethoden, von Sprinkleranlagen bis zu Tropfbewäs-serung.

Ein paar Kilometer kanalaufwärts ist von Wasser keine Spur mehr. Eine riesige Maschine betoniert behäbig die Ränder des Kanalbeckens. Hektik unter den rund hundert Arbeitern und Ingenieuren um die Maschine herum. Mit Schaufeln und Spachteln wird dort nachgeholfen, wo die Technik „gekleckert“ hat. Hier wird im Sommer nur nachts gearbeitet. „Die Hitze ist tagsüber weder für Mensch noch für Maschine oder den Beton auszuhalten“, erklärt Vorarbeiter Said Muhammad Rahim Muhammad. Tagsüber aufgetragen, würde der Beton durch die Hitze schlicht platzen, bevor er hart würde. Am Ende der Nacht werden über hundert Betonmischwagen ihre schlammige Ladung in den scheinbar unersättlichen Schlund der Maschine geschüttet haben, die dann weitere 150 Meter Kanalrand eingeschalt haben wird. Über vier Kilometer des Kanals sind bereits fertig. Insgesamt werden am Ende zwei Millionen Tonnen Beton in das Projekt geflossen sein. Doppelt soviel wie für das bisher größte Bauprojekt der ägyptischen Geschichte – den Assuanstaudamm.

Weitere dreißig Kilometer wüsteneinwärts ist selbst der Verlauf des späteren Kanalbeckens nicht mehr auszumachen. Mehrere Dutzend Bulldozer einer privaten Firma schieben hier als Vorboten des Toschkakanals oberflächliche Sandschichten zur Seite. Es riecht nach Öl und Staub. Die Baustelle in der Wüste läßt an Sisyphos denken. Mehr als vierzehn Millionen Kubikmeter Sand müssen insgesamt für den Kanal bewegt werden.

Der Ingenieur Hisham Al-Khouli fährt mit seinem Wagen die Piste ab. Vor zwei Jahren hat er seinen Abschluß gemacht. Nicht der geringfügig höhere Lohn hat den jungen Ingenieur hierhergelockt. Diese Baustelle sei seine große Chance, um sich zu qualifizieren und mit neuer Bautechnologie vertraut zu machen, was nirgendwo sonst im Lande möglich sei. „Diese wenngleich harte Erfahrung in Toschka wird sich vor allem in Zukunft in Geld auszahlen“, hofft er. Jetzt geht es ihm zunächst darum, genug Geld zu verdienen, um demnächst heiraten zu können.

Weit weg von allem Brummen, Rauschen, Schieben, Baggern und Betonieren arbeitet der Kartenmacher Muhammad Samir. Er ist der Chef der Geographen, die die Wüste kartographisch erfassen. Seit fast schon zwei Jahren ist er hier. Zunächst hat er mit seinem Team den Standort für die Pumpstation kartiert, dann den Hauptkanal, und derzeit arbeitet das Team am Verlauf der Seitenarme. In Gruppen von vier Mann und einem Jeep vermessen sie jeden Tag ein anderes Stück Wüste. „Wir sind so eine Art unbekannte Soldaten des Projektes“, sagt Samir. Die Geographen sind die Vorhut des Kanals. Samir genießt seine Arbeit fernab vom Stadtstreß und – seine Autonomie. „Mein Chef sitzt weit weg in Kairo“, sagt er. Hier ist nur der Wind zu hören, der von der sudanesischen Grenze her bläst.

Die meisten Ägypter haben ein ungebrochenes Verhältnis zu derartig ehrgeizigen Großprojekten wie dem Toschkakanal. Schließlich habe auch der Assuanstaudamm, so die weitverbreitete Meinung, trotz seiner negativen ökologischen Effekte wie Klimaveränderungen das Land bereits vor mehreren Dürrekatastrophen bewahrt. Und die wenigen Kritiker des Toschkaprojektes halten sich meist vornehm zurück, da nicht zuletzt der ägyptische Präsident Husni Mubarak die Baustelle zu seinem eigenen Lebenswerk erklärt hat. Jedem Pharao seinen Tempel.

Dennoch stellen sich Ökologen die Frage, wo denn die fünf Milliarden Kubikmeter Wasser herkommen sollen, die einmal jährlich in den Kanal fließen sollen. Die Ingenieure vor Ort verweisen darauf, daß diese Menge in den nächsten Jahren durch verschiedene Wasserkonservierungsmaßnahmen eingespart werden könnte. Allein bei einer Umstellung von dem in Ägypten weitverbreiteten Zuckerrohranbau auf Zuckerrüben könnten jährlich drei Milliarden Kubikmeter Wasser gespart werden, rechnet Abdel Fattah Muhammad Hassan, der Chef der Toschkaforschungsabteilung, zuversichtlich vor.

Auch die nicht genau definierten Kosten des Projektes stoßen gelegentlich auf Unmut. Man hätte das Geld effektiver einsetzen können, heißt es. Etwa für einen weiteren Ausbau des bestehenden Bewässerungssystems. „Das Wasser in die Wüste zu pumpen ist keine gute Idee. Es ist sehr teuer, und man kann das Wasser wesentlich besser nutzen, wenn es im Niltal konzentriert wird“, glaubt der Geologe Rushdi Said.

Das Niltal, sagt er, sei gottgegeben, und es gebe weltweit keinen besseren Boden für die Landwirtschaft. Aus seiner Sicht wäre es wesentlich besser gewesen, Industrie und Häuser aus dem Niltal auszusiedeln und den fruchtbaren Boden voll und ganz für die Landwirtschaft zu nutzen.

Für andere Kritiker des Projektes bleibt Toschka ohnehin blanke Theorie. Irgendwann, sagen sie, werde das Geld ausgehen, und das Projekt wird dem Sand der Wüste überlassen. „Schon andere Präsidenten hatten grandiose Pläne, die Wüste zu erobern“, erinnert sich Magdi Hussein, der Chefredakteur der größten islamistischen Wochenzeitung As-Schaab, „aber niemand hat es bisher geschafft.“

Die Ingenieure sind unbeirrt von dem Projekt überzeugt. Und: So mancher von ihnen hat sich während der heißen Sommernächte im Rauschen der Klimaanlage schon die eigene Zukunft im neuen Tal ausgemalt. Der stellvertretende Projektleiter Muhammad Al-Baschir denkt langfristig und hofft, daß sein heute achtjähriger Sohn dort einmal selbst als Ingenieur arbeitet, während seine vierjährige Tochter in einem der Krankenhäuser der noch zu bauenden Städte als Ärztin tätig sein könnte.

Ob er selbst allerdings einmal Teil des von ihm erträumten neuen Tals sein wird, läßt der Ingenieur mittleren Alters offen. „Ich hoffe, daß mir Gott ein Alter schenkt, daß ich die Früchte meiner Arbeit noch genießen kann.“