Wer sitzt schon gern im Schaufenster?

Heidenheims einzige touristische Attraktion ist der Schäferlauf. Wald und Heide prägen die Landschaft. Ansonsten präsentiert die Stadt die Erfolgsstory vieler deutschen Kleinstädte zwischen Fußgängerzone, neuer Geselligkeit und Betonscheulichkeiten  ■ Von Barbara Schaefer

„Der Schäfer kommt! Der Schäfer kommt!“ Einmal im Frühjahr und einmal im Herbst hallte der Ruf durch die Straße. Dann rannten wir auf eine Wiese zwischen die Wohnblocks, wenn wir durften und keine Angst vor den Hunden hatten. Oder wir schauten vom Kinderzimmerfenster hinunter. Wenn niemand gerufen hatte, so hörte man ihn doch kommen, hörte Hunde bellen, und bald roch man es, drei Stockwerke hinauf. Der Schäfer trug einen langen, dunklen Umhang, wohl auch einen Hut, wenn das Wetter schlecht war, und das ist es auf der Ostalb oft. Nicht ein einziges Mal in den Jahren der Kindheit haben wir mit dem Schäfer geredet. Er war uns unheimlich.

Ziegeläcker heißt diese Straße, in den späten sechziger Jahren war das ein Neubaugebiet am nördlichen Ortsrand von Heidenheim an der Brenz, eine Kleinstadt auf römischen Fundamenten errichtet. Anfang des 12. Jahrhunderts wuchteten die Staufer Buckelquader aus Jurakalk auf einen 70 Meter über dem Brenztal aufragenden Felsen und bauten Burg Hellenstein. Um 1600 wurde aus der Stauferburg ein Renaissanceschloß, das bis heute weißstrahlend über der Stadt thront. Im Fruchtkasten, einem viergeschossigen Monstrum inmitten der Schloßanlage, logiert seit zehn Jahren das „Museum für Kutschen, Chaisen, Karren“. Welch schrecklicher Name für eine schöne Sammlung, denn hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich nicht nur eine stattliche Anzahl von Fahrzeugen, sondern auch eine hervorragend aufgemachte Geschichte des Reisens. Von der Mühsal des Reisens ist die Rede, von bürgerlichem Reisefieber, Gasthöfen, Postkutschen, Zigeunern, Jahrmärkten, Hausierern.

Der „Mühsals des Reisens“ verdankt Heidenheim indirekt sein traditionelles Fest, den Schäferlauf. Im Mittelalter bestimmt, aber sicher auch schon früher, zogen Schäfer über die Ostalb. Jährlich einmal traf sich die Schäferzunft, bis Anfang des 18. Jahrhunderts in Markgröningen. Doch die weite Anreise aus ganz Württemberg sorgte für Unbill. Eberhard Ludwig, Herzog zu Württemberg und Teck, Herr zu Heidenheim, erlaubte 1723 den Heidenheimern einen eigenen „Schäferlauf“

Die Ostalb ist eine spröde Region. Kalkwände und Kalknadeln ragen aus den Wäldern, und Kalksteine, Unmengen dieser hellen, fast weißen Steine und Steinchen liegen in jedem Acker, in jedem Vorgarten, das bißchen Erdkrume dazwischen verschwindet fast. Doch unverwechselbar wird die Landschaft durch Schafheiden, nie richtig grün, eher braun, beige das Gras; darauf wachsen einzelne Wachholderbüsche, die der kräftige Wind zurechtzupft. Diese Wachholderheiden gäbe es ohne Schafe nicht. Sie halten den Trockenrasen so kurz, daß nichts anderes wachsen kann, nichts, was die heiklen Wachholderbüsche überwuchern könnte. Die Schafe fressen alles kurz und klein.

Die Landschaft prägt auch den Menschen. Der Schwabe von der Alb gilt als wortkarg. Das ist noch geschmeichelt. Spricht man erst davon, wie er redet, wenn er mal redet, wird's rauh. „Du alter Bruttler“, so nennt man Männer, die kaum was sagen, nur vor sich hingrummeln. Das ist kein Schimpfwort, im Schwäbischen ist das ein Kosewort. Der Umgangston ist rauh, und wer dazu setzt, aber herzlich, will nur höflich sein. Auf dem samstäglichen Wochenmarkt unterm Schloß Hellenstein herrscht ein anderer Ton als zur gleichen Stunde am Marktplatz in Stuttgart. Wer hier aufwuchs, aber fortzog, der zuckt zusammen, wenn es sich anhört, als seien die einkaufenden Ehepaare mit Weidekörben am Arm und Stofftaschen über den Schultern schon frühmorgens heillos zerstritten.

Ab dem Donauried ist die Erde dann klumpig schwer, schwarz und fast sündhaft fruchtbar. Dort ist Bayern. Katholisches Land. Gegen „das jesuitisch G'schmaiß in der Nachbarschaft“ wetterte 1615 Dr. Tobias Lotter, später Stiftsprediger in Stuttgart, von der Kanzel in Brenz, südlich von Heidenheim gelegen. Lotter reformierte die Gemeinde, er war nicht zimperlich. Feiertage sollten der „Fürstlichen Württembergischen Ordnung gemäß“ gehalten werden, das werde dem Herrn besser gefallen, „als wann ihr mit Creutz und Fahnen an Fest- und Feyertag seid umgangen, vor einer Kirchen zu der anderen gewallfahrtet, und damit nur müde Füß gemacht, Gott im Himmel erzürnet und die edle Zeit übel angeleget habt“. Mit der Nachbarschaft meinte Prediger Lotter Dillingen. Dort ist Bayern.

Heidenheim hat eine Fußgängerzone. Das versteht sich von selbst. 1982 wurde dafür die Hauptstraße für den Verkehr gesperrt. Bis dahin gab es in der ganzen Stadt kein Café, das Stühle ins Freie gestellt hätte. Und als zwei Jahre später das Café Sonnleitner einen gläsernen Anbau wagte, der wie ein Wintergarten in die Fußgängerzone ragte, prophezeite man den geschäftlichen Ruin. Wer setzte sich „zum Kaffee“ in ein Schaufenster, wo einen jeder sieht?

Heute scheint es in der Fußgängerzone mehr Sitz- als Stehplätze zu geben, jedenfalls im oberen Abschnitt, Heidenheims wuseliger Ortsmitte. Die Innenstadt wirkt auch nach Geschäftsschluß belebt, dafür sorgt die Kneipenszene. Unlängst traf sich ganz Heidenheim zur Musiknacht, 30 Bands spielten in 27 Lokalen, ein Gospelkonzert in der Pauluskirche mit eingerechnet. Trauben von Menschen zogen von Kneipe zu Kneipe, mit Salsarhythmen morgens um vier klang die Nacht aus. So südlich und lebensfroh zeigt sich Schwaben in der jüngeren Generation. Bei der Musiknacht kehrte denn auch Leben ein im unteren, sonst eher verwaisten Ende der Fußgängerzone. „Wir wollen das zum südlichen Pol der öffentlichen Kommunikationsplätze machen“, sagt Wolfgang Heinecker, Pressesprecher der Stadt. Daß er so gespreizt redet, geschwollen, wie man hier sagt, wird ihm angekreidet. Der habe studiert, heißt es. Er fahre auch immer und überallhin mit dem Fahrrad. Und er macht sich stark für das „visuelle Kommunikationskonzept“ der Stadt. Für den diesjährigen Schäferlauf ziehen eine Barfußspur und die Fährte eines Schafes übers Plakat. Prägnant und witzig – aber in grün und violett. „Wo bleiben da die Stadtfarben Rot und Blau?“ moniert der Redakteur der einen Heimatzeitung; „Ende der Betulichkeit“, titelt die andere.

Heidenheim hat katastrophale Bausünden begangen, die sich nicht einmal auf Postkarten wegmogeln lassen. Dabei war der größte Sündenbock die Stadt selbst; 1972 stellte sie ein Rathaus in die Innenstadt, das alle Dimensionen sprengt. Der dreiflüglige Betonbau dominiert beim Blick vom Schloß das Häuserdachgewirr, wirkt wie eine Staumauer in einem felsumspülenden Bach. Da kann drumherum noch soviel gegiebelt werden, das kam in den Achtzigern, mit der Fußgängerzone. Jeder Neubau bekam ein Giebeldach, besser noch ein mehrgiebeliges Ding. Da gebärdete sich Heidenheim in den hinteren Ecken und in der unterm Schloß langführenden Hinteren Gasse wie ein Möchtegern-Rothenburg. Da wurde gefachwerkelt, was der Putz hergab. Immerhin entstanden ein paar lauschige Ecken, wo man abends hübsch draußen sitzen kann – beim Italiener, denn in der schwäbischen Gastronomie erntet man überraschte Blicke, wenn man abends um neun in die Gaststube kommt. „Oh! Da mua i erscht frage“, sagt die Frau Wirtin, und gleich darauf schallt es aus der Küche: „Bloß no kalte Sacha.“

Zuletzt wurde rund ums Rathaus erneuert. Die Neff-Brauerei, eines dieser ziegelroten Industriebauwerke des vorigen Jahrhunderts, in das andere Städte Kulturzentren installieren, wurde abgerissen. Zwischen Rathaus und Neubau breitet sich ein durchgepflasterter, baum- und grünloser Platz aus. Ein paar Stufen wurden eingebaut, das freute Skateboarder und Inline-Skater. Nicht lange, die unziemlichen Fortbewegungsmittel wurden verboten. Nun erinnert der Platz an eine staubige Arena. Nur samstags, wenn Landwirte auf dem Bauernmarkt Fleisch, Käse, Milch, Haferflocken und Hagebuttenmarmelade anbieten, belebt sich die Ecke etwas.

Hier steht auch Gerlinde Hauser vom Ugenhof mit ihrem Bioland-Wagen. Zum Ugenhof kommt man auf einem wunderschönen Radweg, und da zeigt sich, wo Heidenheims touristische Attraktivität schlummert. Die Stadt ist die waldreichste Kommune im Regierungsbezirk Stuttgart, „von jedem Punkt der Stadt ist man in spätestens zehn Minuten im Wald“, verspreizt sich Heinecker. Unterhalb des Schlosses führt ein Teersträßchen ins Ugental hinein. Schon kurz nach den letzten Stadthäusern riecht es nach Land. Ab 1683 wohnten im Talhof vor den Toren der Stadt zwei Jahrhunderte lang die Widmanns, Heidenheims Scharfrichterfamilie. 1929 kaufte die Heidenheimer Fabrikantenfamilie Voith den Hof und begann, ihn nach den Grundlagen Rudolf Steiners zu betreiben.

Der Talweg schlängelt sich sacht aufwärts, beidseitig umrahmt von Mischwald, riesige Buchen fallen auf, manchmal ein Stückchen Schafheide, dann wieder wird der Talgrund breiter, Äcker und Wiesen links und rechts. Die Teerstraße hört bald auf, ein weißsteiniger Weg windet sich durch dichteren Wald, wird so steil, daß man kräftig in die Pedale treten oder schieben muß, und endet schließlich, nach einer Dreiviertelstunde, auf einer gerodeten Hochfläche. Hier liegt der Ugenhof in seiner Dreifarbenlandschaft: waldgrün, himmelsdunkelblau und rapsgelb. Woher die Alb plötzlich so üppige Farben geliehen hat! Gerlinde Hauser verkauft ihr Dinkelbrot, Kernlesbrot, Roggenbrot auch am Hof. Einsam sei es hier nicht, sagt die rotlockige Mittvierzigerin. Heute, mit Auto und Telefon. Und die Bäuerinnen hätten es auch nicht mehr schwer, jedenfalls nicht mehr so schwer wie früher. Vor zwanzig Jahren hat ihr Mann den Hof gekauft, es ist einer von dreien auf dieser Rodung. Vor zehn Jahren stiegen sie auf biologischen Anbau um, „auf Drängen des Sohnes“.

Werner Wiedenmann steht auf seine Schäferschippe gestützt im Reibertal zwischen Heidenheim und Nattheim. Er trägt einen langen, dunklen Kittel, der seinem drängenden Bauch viel Platz läßt, und einen Hut, unter dem seine Locken bis auf die Schultern fallen. Er hat ein rundes, freundliches Gesicht und große blaue Augen. „Ziegeläcker? Die kenn' ich gut!“ Aber nicht er hat dort in den sechziger Jahren geweidet, das war sein Vater, Werner Wiedenmann senior. Wenn der Junior so dasteht und seine Herde dicht gedrängt um ihn wogt, dann sieht er selbst aus wie ein robuster, einzeln wachsender Wachholderbusch. Der Stadtschäfer ist 32 Jahre alt, er hütet 800 Merino-Landschafe, „für die tät ich mein Leben geben“. Mit fünfzehn wurde er Schäfer; seither geht er jeden Tag zum Hüten. In all den Jahren war er „vielleicht zehn Tage“ nicht bei seinen Tieren. Einmal habe die Schwester geheiratet, da konnte er nicht auf die Weide, einmal war er vier Tage auf Mallorca. Urlaub? „Das brauch' ich net!“ sagt er.

Werner Wiedenmann überlegt seine Antworten gut, er bewegt sich ohne Hast. Er verbringt die meiste Zeit allein mit seinen Tieren, wirkt aber er eher leutselig als eigenbrötlerisch. Und unheimlich wie der große, dunkle Mann aus den Kindheitserinnerungen schon gar nicht. Doch auf den Schäferlauf ist er nicht gut zu sprechen. Landschaft werde verbaut, Straßen durchschneiden Weidegebiete, Schäfer seien billige Landschaftspfleger ohne Anerkennung. Nur beim Schäferlauf erinnere man sich an sie: „'s ganze Jahr über denkt niemand an den Schäfer, und dann auf einmal...“ Folklore, sagt Wiedenmann.

Verdienen Schäfer ihr Geld mit Fleisch oder mit Wolle? Wiedenmann lacht. „Geld verdienen? Oje. Ein Schäfer wird nicht reich.“ Dann korrigiert er sich. „Doch – ich bin reich. Weil ich zufrieden bin mit dem Leben, mit mei'm Sach'.“ Für das Kilo Wolle bekommt er zwei Mark, ein Schaf liefert etwa vier Kilo. Für Lammfleisch erhält er zehn Mark pro Kilo. Lieber wäre es ihm schon, wenn er mit der Wolle mehr verdienen würde. „Wochenlang kümmert man sich um die Jungen, schaut, daß es ihnen ganz gut geht, und dann schlachte ich sie – manchmal ist das schon eigenartig.“

Im Herbst zieht er mit seinen Schafen in Richtung Gaildorf, nördlich der Schwäbischen Alb. Dort ist das Klima milder, der Winter nicht so grimmig. Zwei bis drei Wochen dauert das, fünf bis fünfzehn Kilometer am Tag treibt er mit seinen altdeutschen Schäferhunden Hex' und Giovanni die Herde. Allerdings schläft er nicht mehr in einem der hölzernen Schäferkarren, die man noch auf Wachholderheiden stehen sieht; er hat einen Wohnwagen. Wenn er so durch das schwäbische Land zieht, muß er Straßen queren, dann müssen Autos anhalten. Manche schimpfen oder beschweren sich, weil „Schafbolla“ auf dem Gehweg liegen. „Wenn ich mich dann so sehe, mit meinen Schafen und meinem G'wand, und auf der anderen Seite Autos und Städte, die immer weniger Platz lassen in der Landschaft, dann frag' ich mich, ob wir Schäfer überhaupt noch in diese Welt gehören?“

Info: Heidenheim liegt am nordöstlichen Ende der Schwäbischen Alb. Erreichbar über die A 7, die B 19 oder die B 466. Nahverkehrszüge nach Ulm und Aalen bilden die Anbindung ans Schienennetz. Auskunft: Stadt Heidenheim, Tourist-Information, Hauptstr. 34, 89518 Heidenheim, Telefon: (07321) 327 340