Verklärung zur Kenntlichkeit

Bitte keine Generalweltanbrennung! Theodor Fontane, der morgen vor hundert Jahren starb, war als Bürger ein unsicherer Kantonist: stockkonservativ und antisemitisch. Seine Werke aber gehörten zur „Moderne“ und wiesen voraus ins 20. Jahrhundert  ■ Von Bernd Balzer

Als er vor 100 Jahren in Berlin starb, schien er wie kein anderer zum Zeugen des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts bestimmt. Fast alle wichtigen geschichtlichen und künstlerischen Ereignisse waren jeweils auch Etappen seines Lebenslaufes: Im Jahr der Karlsbader Beschlüsse am 30. 12. 1819 in Neuruppin geboren, erlebte er die Restauration der 20er Jahre und die kurze Euphorie des jungdeutschen Liberalismus in den 30ern, um sich nach 1840 am politischen Aufschwung des Vormärz aktiv zu beteiligen. Mit Restauration, Bismarck-Ära, Reichsgründung und Stagnation der Kaiserzeit suchte und fand er jeweils ein Arrangement – kaum verwunderlich, daß Thomas Mann und Georg Lukács ihn als politisch „unsicheren Kantonisten“ sahen und die Literaturgeschichtsschreibung große Mühe darauf verwenden mußte, Widersprüchlichkeiten zu interpretieren oder zu kaschieren.

Fontane repräsentiert das Zeitalter des Realismus – in den vom bürgerlichen Optimismus getragenen Theoriedebatten nach 1850 ebenso wie auf dem skeptisch-poetischen Höhepunkt in den 80ern – noch vor Raabe, Storm oder C.F. Meyer. Und dennoch weist sein literarisches Schaffen weniger zurück als vielmehr voraus ins 20. Jahrhundert. Er war in seinen späten Jahren moderner als die zahlreichen Gruppierungen und „Ismen“, die sich selbst als Avantgarde der „Moderne“ proklamierten. Den Naturalismus hatte er als einer der ersten als Beginn einer neuen Epoche begriffen – „hier scheiden sich die Wege, hier trennt sich Alt und Neu“. Der „moderne Roman“ jedoch, so erkannte schon Heinrich Mann, wurde „für Deutschland von ihm erfunden“, nicht von Max Kretzer oder Hermann Conradi. Über das L'art pour l'art des Fin de siècle wirkte seine Ästhetik ohnehin hinaus, und Thomas Mann – damals noch der Décadence verpflichtet – gestand ein: „Theodor Fontane ist unser Vater.“ Seit seinem Aufsatz „Der alte Fontane“ aus dem Jahre 1910 ist die Rezeptionsgeschichte Fontanes zu einer anhaltenden Erfolgsgeschichte geworden.

Möglicherweise waren es neben seinem schriftstellerischen Talent (in seiner Jugend hätte man noch von „Genie“ gesprochen) gerade die Widersprüchlichkeiten seiner Biographie, die sein poetisches Programm und seine literarische Praxis über die „objektiven Bedingungen“ seiner Zeit hinausführten und seinem Werk Gültigkeit auch so lange über seinen Tod hinaus verliehen. Einer dieser Widersprüche betrifft die historische „Verspätung“ Deutschlands und die gesellschaftliche Verfassung des Kaiserreiches. „Es kam die Herwegh- Zeit, Ich machte den Schwindel tüchtig mit“, distanziert er sich 1854 von revolutionärem Engagement und früher politischer Lyrik, in der er den gleichen Herwegh gepriesen hatte: „In deinem Busen ist zu Hause / Der Durst nach Freiheit, der Rebell.“

In Leipzig hatte er diese Zeilen und ähnliche andere geschrieben als Angehöriger einer illegalen burschenschaftlichen Verbindung. Leipzig, Dresden, Burg waren nach der Lehre in Berlin Orte seiner Ausbildung und ersten Tätigkeit als Apotheker, dann wieder Berlin, das von nun an sein Lebensmittelpunkt wurde, unterbrochen nur von Reisen und einem fast vierjährigen Englandaufenthalt. Ein adliger Freund seines Militärjahres führte ihn 1843 in den literarischen Sonntagsverein „Tunnel über der Spree“ ein. Aus diesem äußerst konservativen Kreis von Offizieren, Beamten, Künstlern und Literaten (zu denen Menzel, Heyse und Strachwitz gehörten) rekrutierten sich die Freunde und Gönner, die bestimmend wurden für sein weiteres Leben und Schreiben. Doch wurde dadurch „sein Leben in eine Richtung gelenkt, die seiner früheren Entwicklung entgegengesetzt war und ihn in Widersprüche verwickelte“ (Charlotte Jolles).

Der um Aufstieg und Ansehen ringende Autor paßte sich an: wandte sich von der politischen Lyrik ab und, mit raschem Erfolg, der Ballade nach englischem Vorbild zu. Das hinderte ihn nicht daran, sich an den Barrikadenkämpfen der Märzrevolution zu beteiligen. Schon ein gutes Jahr später jedoch tritt er, unterstützt von Freunden, aber aus eigenem Entschluß, in das „Literarische Kabinett“ ein, einer mit Zensurfunktionen betrauten Einrichtung, die vor allem Provinzzeitungen im Sinne der Regierung beeinflussen und unterstützen sollte. Von 1860 bis 1870 ist er in der Redaktion der erzkonservativen Neuen Preußischen („Kreuz-“) Zeitung, 1870/71 Kriegskorrespondent in Frankreich.

Der erste Band seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862, bis 1882 sind es dann 5 Bände) las sich als Verherrlichung des preußischen Adels. Die Kriegsbücher verstärkten dieses Image, und doch ist in diesen Studien das Material gesammelt und der Grund gelegt für die kritische Darstellung dieses Adels und der von ihm dominierten Gesellschaft durch den Romancier Fontane, der erst 1878 mit „Vor dem Sturm“ an die Öffentlichkeit tritt. Als der Erfolg sich abzuzeichnen beginnt, schreibt Fontane an seinen Verleger: „Ich fange erst an. Nichts liegt hinter mir, alles vor mir.“ 16 Romane und größere Erzählungen sollten dem Erstling folgen.

In ihnen dominiert nicht mehr der individuelle „Held“ des traditionellen deutschen Bildungs- und Entwicklungsromans. In der Individualität der Fontaneschen Protagonisten entfaltet sich das Typische seiner Zeit und der gesellschaftlichen Situation, die sich in der Vielstimmigkeit oder gar im Antagonismus gesprächsweise vorgeführter Ansichten entwickelt. Die Handlung ist nicht so wesentlich, Zeitgeist manifestiert sich im Alltäglichen. Der Erzähler tritt hinter den Dialog seiner Figuren zurück. Sein ästhetisches Verfahren der „Verklärung“, das weder Beschönigung noch auch nur „Weichzeichnung“ bedeutet, sondern die Elemente der Wirklichkeit auf das Kunstprinzip verpflichtet, macht den Zeitroman möglich, ohne ihn zum Tendenzroman verkommen zu lassen.

„Schach von Wuthenow“, „Effi Briest“, „Der Stechlin“ bezeugen die Meisterschaft dieses Verfahrens. Die Romane enthalten keine revolutionären Programme. Fontane fürchtet jede „Generalweltanbrennung“, aber: In der Zeichnung des Adels, „wie er sein sollte“ („Der Stechlin“), oder in der Darstellung der unerbittlichen Inhumanität einer versteinerten Sozialordnung („Effi Briest“) wird die Notwendigkeit von Veränderungen zwingend – dinglicher sogar, als es der Autor selbst meinte: Er verteidigte Innstetten gegen den Zorn der mit Effi fühlenden Leser – die Kontroverse ist längst im Sinne der Leser (und des Romans) entschieden. „Was Fontanes Romankunst bis heute so bewundernswert macht: Sie gelangt über Positionen, die der Autor bezogen hat, und über Grenzen, die ihm gezogen waren, objektiv hinaus“ (Norbert Mecklenburg).

Dies mindert einen anderen Aspekt, der Fontane als unkritischen Verfechter einer Zeitströmung kennzeichnet: Der Bürger Fontane war Antisemit. Das Faktum ist lange kaschiert und verschwiegen worden und blieb bis vor kurzer Zeit ein „heißes Eisen“ der Fontane-Forschung. Doch seine Briefe und andere Aufzeichnungen lassen daran keinen Zweifel. Sie enthalten zum Teil erschreckende Äußerungen: „Die Juden sind nun mal da... Zugegeben, daß es besser wäre, sie fehlten, oder wären anders wie sie sind“, schrieb er 1855, und im letzten Lebensjahr nannte er die Juden „ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann“.

Dazwischen liegen unzählige Juden karikierende, herabsetzende, aus heutiger Sicht geradezu rassistische Äußerungen. Er stand damit im Einklang mit der Mehrzahl seiner deutschen Zeitgenossen – was es nicht besser macht. Dieser Antisemitismus stellt die so gern beschworene Humanität des Bürgers Fontane ins Zwielicht. Den Autor läßt es unbeschädigt: Antisemitische Stimmen kommen zu Wort in seinen Romanen, finden aber in der Mehrstimmigkeit des erzählerischen Verfahrens noch stets ein Korrektiv.