Modell Holland

■ Eine Ampelkoalition gilt in Bonn als komplett unwahrscheinlich. Doch einiges spricht dafür, daß am Sonntag abend alles ganz anders wird

Klar, die richtigen Polit-Profis wissen es schon seit einem Jahr: Es wird eine Große Koalition geben. Und die ganz harten Profis in den Bonner Deutungsstäben wissen es seit Wochen noch genauer: Es wird eine Große Koalition unter dem Kanzler Schäuble (möglich auch Rühe) und dem Vizekanzler Lafontaine geben. Die Köpfe auf den Wahlplakaten, so flüstern es die mit allen Wassern gewaschenen Profis lässig hinzu, werden schon um 18.01 Uhr des 27. September Schnee von gestern sein. Kohl könne dann als Pensionär an seinen Memoiren feilen, und Schröder – ja, der werde dann wohl nach kurzer Schamfrist als Noch-Ministerpräsident einen Managerposten in seinem Autowerk da in Niedersachsen übernehmen.

Wenn sich da unsere Bescheidwisser aus der Bonner Szenerie mal nicht irren. Sicher: Wird die SPD stärkste Fraktion und kommen auch die parlamentarischen Kleinparteien samt PDS erneut in den Bundestag, dann werden wir die Große Koalition bekommen. Mit Schröder als Bundeskanzler. Das ist immer noch ein sehr wahrscheinliches Szenarium. Landet die SPD aber auf dem zweiten Platz, ganz knapp hinter der Union, dann wird Gerhard Schröder – Gerhard Schröder! – gewiß nicht kleinlaut an die Mikrofone treten, traurig seine Niederlage eingestehen und demütig nach Hannover zurückkehren. Es könnte vielmehr ein bißchen wie 1969 gehen. Die Union wird am frühen Abend vielleicht triumphieren und später feststellen, daß sie aus dem Spiel ist.

Das Ganze kann dann etwa so ablaufen: Als erster wird der Landesvorsitzende der nordrhein- westfälischen FDP so gegen 19.00 Uhr daran erinnern, daß das Wahlergebnis nicht nur die Große Koalition zuläßt. In diesen Minuten werden dann einige wendige SPD- Strategen Kontakt mit dem ebenfalls bekanntermaßen höchst wendigen freidemokratischen Generalsekretär aufnehmen. Reinhard Brüderle wird mit in die Konspiration einbezogen, denn der weiß, wie man mit der SPD erfolgreiche Bündnisse macht. Im übrigen ist er der Held der deutschen Mittelständler, und die sind wichtig für Schröders Innovationsvorhaben. Vor allem: Brüderle muß Wirtschaftsminister werden, denn so läßt sich das Problem Jost Stollmann einigermaßen elegant aus der Welt schaffen.

Fehlen natürlich noch die Grünen. Aber auch die werden sich blitzschnell auf die neue Situation einstellen. Denn wir wissen ja: Es ist dies die letzte Chance der Generation Fischer. Und so wird Fischer staatsmännisch und dabei doch gut grün erklären, daß jetzt alles darauf ankomme, die Große Koalition der Reformblockierer zu verhindern und die demokratische Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus zu erhalten. Und alle drei Parteien werden mit einem Mal das holländische Vorbild preisen. In der Tat hat Holland die zur Zeit erfolgreichste Regierung in Europa, und zwar eine lila Koalition aus Sozialdemokraten, der linksliberal-ökologischen D66 und den marktradikalen Rechtsliberalen.

In dieser Konstellation wäre Schröder Kanzler, auch wenn er nur als Zweiter durchs Ziel käme. Die Union dagegen wäre dann rasch der Letzte im machtpolitischen Wettbewerb. Und das sollte Schröder mit seinem ausgeprägten Machtinstinkt nicht reizen? Er wäre klar der Gewinner in diesem Spiel. Denn auf den Kanzler käme es an in einer solchen schwierigen Parteienkonstellation. Je heterogener ein Bündnis, desto stärker ist die Führungsposition des Regierungschefs – auch und gerade gegenüber seiner eigenen Partei.

Auf diese Weise konnte der niederländische Ministerpräsident und Sozialdemokrat Wim Kok zur überragenden politischen Autorität wachsen. Denn so konnte er trotz mürrischer Proteste aus seiner eigenen Partei den maroden holländischen Versorgungsstaat von ehedem radikal sanieren. In der lila Koalition mußten die niederländischen Sozialdemokraten, ob sie wollten oder nicht, die bittere Medizin der Wohlfahrtsstaatsreform schlucken. Und die Sozialdemokraten veränderten sich dabei. In der holländischen PvdA, einst links von der SPD angesiedelt, haben heute nüchterne Pragmatiker das Sagen. Sie wissen, daß der solidargemeinschaftliche Zusammenhang der Gesellschaft ohne marktwirtschaftliche Dynamik nicht zu haben ist.

Genau darin liegt, neben den taktischen Winkelzügen, der politische Überzeugungskern eines deutschen lila Bündnisses. Die bisherigen Koalitionen waren lediglich darauf angelegt, die Binnenintegration der jeweiligen Lager herzustellen: Schwarz-Gelb einte das bürgerliche, Rot-Grün das sozialökologische Lager der Republik. Komplementäre gesellschaftliche Energien und Kräfte konnten so nicht gebündelt werden. Eben darauf aber käme es jetzt an. Rot- Grün wäre lediglich die Allianz des öffentlichen Dienstes mit sich selbst. Doch für die allseits postulierte wirtschaftliche Innovation braucht man schon noch Teile des gewerblichen Bürgertums, das aber weder Rote noch Grüne in ihren Reihen haben.

Ebendas bringt die FDP ins Spiel. Ihr Wähleranhang schmilzt zwar dahin, aber ihr Draht zu den wirtschaftlichen Eliten ist intakt. Und die ökonomischen Eliten der 90er Jahre sind keine sentimentalen Deutschnationalen wie das Bürgertum der 50er und 60er. Die ökonomischen Eliten von heute werden sich nicht, empört über den politischen Verrat, von der FDP abwenden, sondern kühl kalkulierend ihre Beziehungen zu den Liberalen ausbauen. Die FDP in der Regierung wird wichtiger als die CDU in der Opposition.

Darüber hinaus: Eine Regierungsbeteiligung der FDP könnte dem deutschen Kleinbürgertum, ein wenig zumindest, die immer noch tief sitzenden Ängste vor Rot-Grün nehmen. Die lila Koalition wäre ein Bündnis von Arbeitern, neuen Dienstleistern und Bürgertum – gewiß sehr schwierig, sicher sehr heterogen, aber jedenfalls besser als die Blockade der beiden Großlager, die wir nun seit Jahren schon haben. Im übrigen wäre dadurch der nachgerade natürliche Regierungsanspruch der Union auf Dauer gebrochen.

Und angesichts dieser Aussicht sollte sich die SPD mit der Rolle des Juniorpartners der Union begnügen? Das ist schwer vorstellbar. Jedenfalls ist es der Test auf die Politikfähigkeit unserer politischen Medienstars. Kommt die PDS in den Bundestag, schaffen Grüne und FDP das Quorum, geht die SPD aber nur als Zweiter durchs Ziel – dann kommt es darauf an, was Schröder, Fischer und Westerwelle tun. Sind sie Politiker mit Sinn für historische Chancen, dann werden sie handeln – und sich alliieren. Franz Walter