Provinzialität schafft Freiheit

■ Daß das britische Theater international so erfolgreich ist, liegt am Desinteresse der britischen Öffentlichkeit. In repressionsfreien Nischen sagen Autoren, was sie denken, und nur Deutschen kommt dabei die

taz: Sie arbeiten an der Schnittstelle zwischen deutschem und britischem Theater. Hat Ihnen die Erfahrung gezeigt, daß es Unterschiede zwischen deutschem und britischem Verständnis von Theaterästhetik gibt?

David Tushingham: Erst mal glaube ich nicht, daß man von der deutschen oder der britischen Theaterästhetik sprechen kann. Jede dieser beiden kulturellen Traditionen splittet sich wiederum in sehr unterschiedliche ästhetische Richtungen auf. Sogar in ein und derselben Stadt machen Leute aus völlig verschiedenen Gründen Theater und haben ganz verschiedene Vorstellungen davon, wie Theater aussehen soll.

Aber die Flut von neuen britischen Theaterstücken – und vielleicht auch die Art und Weise, wie sie auf der Bühne inszeniert werden – scheint doch in Deutschland als etwas Neues und Exotisches begierig rezipiert zu werden.

Ja, was ich in England besonders interessant finde, ist, daß sich die Aufmerksamkeit hier in mehreren Theatern gleichzeitig auf Theatertexte zu richten begonnen hat. Das heißt auf die Tatsache, daß es eine Gruppe sehr begabter und unterschiedlicher Autoren gibt. In gewisser Weise hat diese neue Generation des „new writing“ das britische Theater geöffnet. Schon in den 70ern starteten einige Theater Initiativen, um Theater im allgemeinen zu modernisieren, und das bedeutete, daß neue Stücke gefunden werden mußten, weil die alten dazu einfach nicht taugten. Das ging mit der finanziellen Förderung von Autoren einher und von Theatern, die mit Autoren zusammenarbeiteten.

Dieses System unterscheidet sich fundamental vom deutschen Theater, denn in der Regel werden die deutschen Staats- und Stadttheater als Gesamtunternehmen gefördert, abgesehen von den Autoren, die allein durch Tantiemen bezahlt werden. Mir erscheint es jedenfalls absolut unglaublich, daß in Deutschland die Finanzdirektoren der Theater behaupten, keine Möglichkeit zu finden, Autoren zu bezahlen, zu unterstützen und mit Aufträgen zu versehen.

Was mich bei den britischen Inszenierungen von Mark Ravenhills „Handbag“ oder der Szenenreihe „Sleeping around“ im Rahmen der Berliner Festwochen gewundert hat, ist, daß der zugrunde liegende Text ohne einen spezifisch ästhetischen oder interpretierenden „Mehrwert“ der Regie oder der Schauspieler auf die Bühne gebracht wurde.

Was man berücksichtigen muß, ist, daß die meisten Stücke in Großbritannien nur einmal beziehungsweise an nur einem Theater aufgeführt werden. Es ist nicht so wie hier, daß ein Regisseur, der „Disco Pigs“ inszenieren möchte, weiß, daß dasselbe Stück in dieser Saison an zehn deutschen Theatern laufen wird. Natürlich möchte man sich dann von den anderen Inszenierungen abheben. In England dagegen hat man als Uraufführungsregisseur eine Verpflichtung, zunächst den Text zu realisieren. Ich glaube, in Deutschland empfinden Regisseure es als ihre kulturelle oder gesellschaftliche Verpflichtung, zu beweisen, daß sie ihr Handwerk beherrschen, indem sie dem Text etwas hinzufügen. Das kann faszinierende Arbeiten ergeben, aber auch ins totale Desaster führen. In Großbritannien ist dafür der Grad zwischen guten und schlechten Regiearbeiten weniger extrem, weil der Autor die kreative oder ästhetische Führungsposition innehat. Er ist sozusagen das hauptsächliche künstlerische Talent, der eigentliche Initiator. Aber es gibt natürlich auch Leute, die da ganz anderer Meinung sind.

Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß es in Deutschland einen heftigen Konflikt zwischen Regisseuren und Autoren gibt. In England findet der eigentliche Kompetenzkampf zwischen Schauspielern und Regisseuren statt.

Und welche Rolle spielt ein britischer Dramaturg innerhalb solcher Führungskämpfe?

Vielleicht muß man vorwegschicken, daß wir in England für gewöhnlich gezwungen sind, unter hohem Produktionsdruck und in wesentlich kürzerer Zeit zu proben. In einem Großteil des britischen Theaters gibt es ein sogenanntes „literary department“, dessen Aufgabe es ist, Theaterstücke aufzuspüren. Die Dramaturgen dort partizipieren nicht zwangsläufig an sämtlichen Proben, dafür arbeiten sie mit dem Autor zusammen und helfen ihm, das Stück zu entwickeln. Sehr oft handelt es sich um Auftragswerke. Da der Dramaturg die Intentionen der Auftraggeber und der Regisseure kennt, kann er dem Autor ein bißchen die gewünschte Richtung vorgeben. Und den Text nach Abgabe so weit präparieren, daß die Regie darin nichts mehr „aufzuräumen“ hat.

Das alles versucht man natürlich in einem relativ kurzen Zeitraum zu leisten, schließlich arbeiten alle freiberuflich. Die meisten Leute, die an so einer Aufführung beteiligt sind, haben zuvor noch nie miteinander gearbeitet, weshalb auch jeder gezwungen ist, in unvorhergesehenen Konstellationen sehr schnell und intensiv zu kooperieren.

Und das wirkt sich dann auch auf den Aufführungsstil aus.

Ja, deshalb geht es auch weniger darum, einen bestimmten Aufführungsstil zu arrangieren, als eben das neue Stück auf die Bühne zu bringen. Ein gewisser Realismus steht im Mittelpunkt. Und schließlich ist der Text diejenige Komponente, die ja auch wirklich jedesmal anders ist. Das Publikum stellt sich eher die Frage: „Oh, was spielen die denn heute abend für ein neues Stück?“, anstatt festzustellen: „Aha, das ist ja mal eine ganz neue Art, Theater zu spielen.“ Aber natürlich gibt es auch in Großbritannien etliche Theater, die sich eher auf diese formalen Experimente konzentrieren, etwa Kompanien wie Forced Entertainment oder das Theatre de Complicité.

Aber heißt das nicht auch, daß mit dieser Priorität der Texte auf eine spezifische Publikumserwartung reagiert wird?

Ich glaube, das Publikum erwartet immer und überall etwas Neues, auch im Theater. Ein Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland ist jedoch, daß hier Theater im Vergleich zu anderen Kunstformen einen wichtigeren Status hat. In der britischen Öffentlichkeit und in den Medien ist Theater eher unbedeutend, einfach weil es beschränkt ist. Es wird immer in gewisser Weise provinziell sein. Man muß sich abends an einen bestimmten Ort bemühen, es gibt nur eine gewisse Anzahl von Plätzen, und wenn es vorbei ist, dann ist es nicht mehr zurückrufbar. In Deutschland scheint das Theater aber nicht derart mit den reproduzierbaren Medien konkurrieren zu müssen.

Der Witz ist nun, daß ausgerechnet durch diese britische Theaterignoranz ein gewisser Freiraum geschaffen wurde. Was das Theater für junge Autoren wie Kane und Ravenhill so attraktiv macht, ist eben die Tatsache, daß da kein Rupert Murdoch an der Spitze steht. Im Theater gibt es eine besondere Form von Freiheit, weil eben diese Sorte furchtbar geschäftiger Leute, die Geld von einem wollen und einem sagen, was man so zu denken hat, das Theater ignorieren. Aus dieser Situation der Narrenfreiheit heraus – und auch, weil es an den großen Theatern keine Jobs mehr gab – haben sich die neuen Autoren und Theatertruppen ihre je spezifischen Nischen geschaffen. Dort sind neue Stücke, aber auch neue Inszenierungsformen entstanden, die auch tatsächlich das Publikum erreicht haben. Insofern waren die letzten Jahre im britischen Theater wirklich eine Lektion, die dazu ermutigt hat, künstlerisch etwas zu riskieren.

Aber ist es nicht merkwürdig, daß dieses künstlerische Risiko mit einer Tendenz zum Moralisieren auf dem Theater einhergeht?

Ich denke nicht, daß irgend jemand moralisierendes Theater machen möchte. Aber es stimmt schon, es gibt ziemlich viele Stücke, die sich durch so etwas wie eine humanistische Wende auszeichnen. Zumindest appellieren sie an ein humanistisches Ver- ständnis des Publikums. Dabei mag es paradox erscheinen, daß zugleich auf der Bühne Dinge geschehen, die gerade menschliche Abgründe oder gesellschaftliche Mißstände zeigen – ich denke da besonders an Sarah Kane. Dabei gibt es aber unter den „young writers“ keinesfalls einen Konsens im Hinblick auf bestimmte politische, moralische oder ästhetische Fragen – die es allerdings in der Autorengeneration der 60er und 70er Jahre gab, die wohl alle dasselbe soziale und politische Programm unterschrieben hätten. Interview: Eva Behrendt