Das Portrait
: Dissident duch Tolpatschigkeit

■ Rudolf Nurejew

Er sprang nicht höher als Kollegen, doch hielt er sich länger oben in der Luft. So will es die Legende, die die Gesetze der Gravitation spielend außer Kraft setzte. Nicht nur im Reich des mythenanfälligen sowjetischen Materialismus, selbst aufgeklärte Bewunderer im Westen glaubten an Rudolf Nurejews magisches Vermögen.

Nurejew war eben mehr als ein Ballettstar: ein göttlicher Tänzer von epochaler Erscheinung. 1961 kehrte er auf einer Gastspielreise in Paris der sowjetischen Heimat den Rücken. Ein Jahr später verurteilte das Leningrader Stadtgericht den Flüchtigen wegen Landesverrats zu sieben Jahren Haft. Die russische Generalstaatsanwaltschaft rehabilitierte ihn nun posthum und erklärte den damaligen Richterspruch für unbegründet.

Dabei hatte der unpolitische Tanzprinz gar nicht daran gedacht, die UdSSR und das renommierte Kirow- Ballett zu verlassen. Die Tolpatschigkeit des sowjetischen Geheimdienstes zwang Nurejew zur künstlerischen Neugeburt. Die biedere Parteigewalt konnte es nicht ertragen, daß der eigenwillige, „unlenkbare“ 22jährige – in Paris enthusiastisch bejubelt – nachts ausschweifende Zechgelage veranstaltete und jungen Männern nachstieg.

Als die Truppe des Kirow- Theaters in Paris die Maschine nach London bestieg, hielten KGBler Nurejew zurück. Das Enfant terrible sollte schnellstens nach Hause. Nurejew riß sich indes los. Bruchteile von Sekunden machten aus dem sowjetischen Vorzeigekünstler und Sohn eines Politkommissars einen gefeierten Emigranten, dem es egal war, für wen er tanzte. Der Egozentriker drehte sich nur um sich selbst. Er stürmte auf den nächstbesten Polizisten zu und bat um politisches Asyl.

Damit begannen Nurejews fruchtbarste Jahre. Als Mitglied des Londoner Royal Ballet und Gast auf allen nahmhaften Bühnen gab Nurejews außergewöhnliche Virtuosität dem klassischen Ballett im Westen neuen Auftrieb. Rearrangements von klassischen Choreographien des „Schwanensees“ oder „Don Quichottes“ setzten neue Maßstäbe. Unterwarf er auf der Bühne Geist und Körper der Choreographie, wütete er im Leben ungestüm. Als ihm eine Verehrerin in Berlin einen Strauß roter Rosen überreichte, zertrampelte er das Bouquet: „I hate women!“ 1993 starb Nurejew in Paris an Aids. Klaus-Helge Donath