Fünf Prozent Unzerstörbarkeit

Diese Frau recherchiert nie, sie diskutiert mit ihrem Talent: Nach 20 Jahren Polemiktätigkeit ist Julie Burchill eine britannische Institution geworden – wie Punk, Porridge oder Lady Di  ■ Von Oliver Fuchs

Warum wollen Sie denn unbedingt mit Julie Burchill sprechen“, fragt die Stimme am englischen Ende der Leitung. „Kaufen Sie sich doch ihre Autobiographie! Da steht doch alles drin!“ Literaturtheoretisch ist die Aussage nicht ganz wasserdicht, aber wo die Frau vom Verlag recht hat, hat sie recht. Es steht wirklich alles drin. „I knew I was right“ ist ein wunderbarer Entwicklungsroman, Sexbuch, Popbuch, Geschichtspanorama, und zwischendrin wendet sich die Autorin sogar ein paarmal mit nützlichen Lebensweisheiten direkt an die Leser.

Triff dich nie zum Tee mit denen, die du liebst, heißt es denn auch zum prekären Verhältnis von Fan zu Idol. Burchill erinnert sich an ihre erste und letzte Begegnung mit dem Glamrocker Marc Bolan. In ihrem Jugendzimmer im Industriedorf Bristol hatte sie ganze Sommerferien schluchzend unter seinem Poster verbracht – libidinös aufgekratzt und voller Sehnsucht nach einem besseren Leben in der großen Stadt –, jetzt stand er in London leibhaftig vor ihr und wollte sogar noch was trinken gehen. Julie Burchill, 17 Jahre, Lieblingsfach Englisch, sah Marc Bolan kurz an und drehte sich dann weg. Als frischberufene Punkbeauftragte ihres Magazins war sie höchstens bereit, dienstlich mit Johnny Rotten zu koksen. Bolan dagegen schien ihr plötzlich „alt, fett und past it“.

Nie wieder Keksfabrik!

Die Geschichte der Julie Burchill, die sich 1976 als eine unter Tausenden auf eine Stellenanzeige im New Musical Express bewirbt („Hipper junger Revolverheld gesucht“), gehört in England zum modernen Mythenschatz. Glück, Instinkt, sehnliches Wollen und sensationelles Können – die Berufung eines Schulkinds in den Machtzirkel der bedeutendsten englischen Musikzeitschrift läßt sich zwar rational erklären, klingt aber bis heute wundersam. Möglicherweise gab die vollgekleckste, vor wohlgesetzten Rechtschreibfehlern strotzende Proberezension einer Patti-Smith-Platte den Ausschlag oder ihre Art, sich beim Vorstellungsgespräch geheimnisvoll jugendlich zu benehmen. Aufschlußreich sind die Fotos aus der Frühzeit: Wohin mit Händen, Armen, Beinen? Um die Mundwinkel eine herrliche Angewidertheit, im Blick diese Arroganz, die sich über alles auf der Welt, auch über die eigene Schüchternheit, hinwegsetzt.

Der New Musical Express war in diesen Tagen für die vielen Leute, die ihn wie Burchill mit „religiösem Eifer“ lasen, etwas anderes als eine Zeitschrift, eher göttliche Depesche, und wollte wohl folglich etwas ganz anderes als einen Journalisten einstellen. Das erste Punkwetterleuchten alarmierte die Hippie-Zeiten hinterherträumende Belegschaft – es mußte dringend jemand her, der die Zeitenwende nicht nur beschrieb, sondern in aufrüttelnden Worten den Abonnenten in den Vor- und Schlafstädten nahebrachte. Ihre Revolverhelden fanden sie in Tony Parsons, der vorher in einer Fabrik Gin destilliert hatte, und in Julie Burchill, Arbeitertochter und stolz auf ihre Herkunft wie ein Burgfräulein. Beide ohne journalistische Vorkenntnisse. Das Aufeinandertreffen dieser beiden „bleichen, sarkastischen Außenseiter“ mit dem altgedienten N.M.E.-Stab liest sich wirklich lustig. Einmal bekommt die randalierende Burchill gesagt: Du benimmst dich jetzt anständig, sonst geht's zurück in die Keksfabrik!

Mit Punk war es dann schnell wieder vorbei, und Burchill und Parsons fragten sich, was sie jetzt noch beim N.M.E. zu suchen hatten. Sie heirateten und wandten sich erwachseneren Themen bei konservativeren Blättern mit größerem Honoraretat zu. Auf einmal war Geldverdienen Punk. Und Patti Smith, die von der Popkritikerin eben noch für ihre Platte „Horses“ gerühmt wurde („mehr als eine Platte; ein großes, wunderschönes Prachtstück, das man an die Wand hängen, abknutschen und gegen seine steifen Brustwarzen reiben will“), war auf einmal eine doofe Kuh. Daß Julie Burchill 1984 zum Thatcherismus konvertiert sein soll, sich in ihrer Autobiographie aber – außer in Sex – in kein anderes Thema so hineinsteigert wie in den Kommunismus, gehört zu den Widersprüchen, die sie und die Leser aushalten müssen.

Traum jedes Journalisten: unjournalistischer Journalismus. Texte, die über den Tag hinaus Bestand haben. Hallo, sind Sie nicht der... Haben Sie nicht damals... Julie Burchill ist, nach ihrer über zwanzigjährigen Polemiktätigkeit, bei diversen Zeitungen zu einer nationalen Institution geworden. Ihre Autobiographie kommt, mit 38, für ihre Verhältnisse fast ein wenig spät. Nach dem Romandebüt mit „Die Waffen der Susan Street“, einem „rüden Sex-Schocker“ (Münchner Abendzeitung), nach einem etwas experimenteller geschriebenen zweiten, aber nicht minder rüden Sex-Schocker („No Exit“), nach einem Theaterstück , nach Drehbüchern für die BBC. Natürlich heißt ihr Erfolgsgeheimnis auch: Mach Kontroverse, wo andere bloß Konversation machen. Das klingt nach dem alten eingespielten Team von Provokation und Entrüstung. „Die Autorin kennt nicht einmal den Plural von Klitoris und Penis“, war sich der Observer nicht zu schade zu bemängeln, als „Die Waffen der Susan Street“ erschien. Unterton immer noch: Darf die das? Als Frau? Und hat die überhaupt Volontariat gemacht?

Burchills Stil, subjektiv, unlogisch und boshaft zu schreiben, fand auch in Deutschland Nachahmer, etwa in der genialen Spex- Dichterin Clara Dechsler. Aber am Zenit der Zeitgeist-Bewegung waren es dann doch eher Jungs wie Maxim Biller, die die Ich-Schreibe zur Selbstbespiegelung nutzten. Bei Burchill geht es aber immer um die Sache. Über Woodstock: „Wo um Gottes Willen haben die sich die Haare gewaschen? Wie viele Duschen kamen auf eine halbe Million Menschen?“ Übers Kinderkriegen: „Warum soll man soviel Zeit, Geld und Mühe an jemanden verschwenden, der einen mit 18 sowieso für ein Arschloch hält?“ Über Elvis: „Nur gelangweilte Matronen fanden es aufreizend, wenn er sein Becken wie einen brünstigen Chefsessel kreisen ließ.“ Auch wenn die Bilder bisweilen schief hängen – das sind Sätze, die treffen. Burchill hat das Schlecht-über-jemanden-Denken zur Erkenntnismethode veredelt. Das Ergebnis ist meist schärfer als jedes Porträtfoto. Auf die üblichen Techniken ihres Berufs – befragen, recherchieren, Fakten sammeln – konnte sie daher großzügig verzichten.

Burchill schreibt so direkt, daß man geneigt ist, die These von Kultur als Sublimation für nichtig zu erklären, ein Text kommt erst dann zustande, wenn sie geschafft hat, ihr Talent (eine Art Geist, der bei Burchill wohnt) rumzukriegen, was angeblich nur in einem von zehn Fällen gelingt:

„ICH (zum Talent): Ach, jetzt komm schon, Süße.

TALENT (mit fester Stimme): Nein.

ICH: Jetzt komm endlich, Süße. Du weißt genau, daß es dir gefallen wird.

TALENT: Nein, ich kann nicht. Hinterher kannst du mich nicht mehr leiden.“

Alkohol, Affären und Augenringe

Beim Lesen ihrer Autobiographie kann man sie sich jedenfalls gut vorstellen, wie sie im Morgenmantel mit Zigarre dasitzt und schon beim Tippen vulgär über ihre eigenen Einfälle kichert (letztere Eigenart nennt sie ihren größten Charakterfehler). Alkohol, Augenringe, Affären, das soll's geben im Leben – zum Bild der gebrochenen Frau wollen sich diese Einzelheiten hier aber nicht fügen: „Ich bin sehr gesund und gehöre zu dem Teil der Arbeiterklasse, der von den Soziologen ,die unzerstörbaren fünf Prozent‘ genannt wird.“ Burchill weigert sich beharrlich, jenes Schicksal nachzuvollziehen, das unsere Kultur erfolgreichen Frauen zugedacht hat: erst der Aufstieg (gern „kometenhaft“), dann die Hybris, Erfolg wird zum Fluch, läßt dann nach, und schon folgt der Sturz in die Tablettensucht. Die Kolumnistin und Schriftstellerin Dorothy Parker, Burchills amerikanische Schwester im Geiste, hat diesen Lebenslauf geradezu modellhaft vorexerziert.

Daß die „Dorothy Parker mit Doc Martens“ (Burchill über Burchill) in diesem Jahr in eine fast hektische Betriebsamkeit verfiel, hat wohl auch damit zu tun, daß sie die Inszenierungshoheit über ihr Leben zurückgewinnen will. In London raunten die Medienfritzen etwas von „Comeback“, als bekannt wurde, daß auf die Autobiographie noch ein (seltsam distanzloses) Buch über Prinzessin Diana und ein neuer Roman folgen sollten. In den Jahren zuvor hatte man entweder kein Interesse an der Sunday Times-Kolumnistin gezeigt oder ein sehr gehässiges. Als „schrecklich fett“ beschrieb sie ihr Ex-Ehemann im seriösen Observer, als „Liebling der Rechten“ der Guardian, der dann aber doch ganz froh war, sie kürzlich als Autorin im Blatt begrüßen zu dürfen. Im Frühling war Burchills Haus von Paparazzi umstellt, die einen Blick auf ihr Liebesglück mit der bildschönen jungen Intellektuellen Charlotte Raven erheischen wollten – Büroaushilfe in der Redaktion der von Burchill herausgegebenen Modern Review. Gerade das, was die Fotografen nicht zu sehen bekamen, legt die Autobiographie nun explizit mit Jetzt-erst- recht-Geste offen: zärtliche, komische und turbulente Szenen einer Affäre zwischen Chefin und Sekretärin.

Trost beim Meerschweinchen

Unter dem Paparazzi-Problem litt auch die Peoples' Princess Diana, auf die Julie Burchill anläßlich des ersten Unfalltodestags einen 200seitigen Lobgesang losläßt. Keine einzige Zeile davon sei recherchiert und „vieles, was drinsteht, sicher Müll“, bekennt die Biographin. Ausgerechnet dieses Buch liegt nun auf deutsch vor, während man bei der Autobiographie auf die englische Originalausgabe angewiesen ist.

Burchill begibt sich mit dem Diana-Buch erstmals auf ein Terrain, für das sie wenig Talent hat: Landeskunde. Haarklein erzählt sie die Geschichte von Dianas Urahnen, die sich im Lauf der Jahrhunderte auf Schafe, Landbesitz und Geldheiraten spezialisiert haben. Ja, so warn's, die alten Rittersleut. Im zeitgeschichtlichen Teil erfährt man, daß Diana in der Schule „Blödi Spencer“ gerufen wurde, total isoliert war und, bevor sie Charles kennenlernte, Trost bei ihrem Meerschweinchen suchte. „Sie starb auf der Höhe ihrer Schönheit, Kraft und Mitmenschlichkeit“ – mit solchen pompösen Sätzen stilisiert Burchill sie zur republikanischen Ikone. Dianas angeblicher Freiheitsdrang ist ihr so wichtig, weil sie darin ihren eigenen sozialrevolutionären Hedonismus bestätigt sieht. Stellenweise liest sich das wie ein Zwiegespräch: Ihr von der Oberklasse und wir von der Arbeiterklasse müssen zusammenhalten – gegen die Mittelklasse.