Kein Recht für Havemann?

Clemens Vollnhals zum Widerspruch zwischen historischer und juristischer Urteilsfindung im „Fall Havemann“. Der Bundesgerichtshof verhandelt am 8. 12. erneut  ■ Von Martin Jander

Mitunter fallen Recht und Gerechtigkeit auseinander. Dies gilt insbesondere für die juristische Bearbeitung politischer Unrechtsregime. Der wiederholte Anschauungsunterricht, den man in der Bundesrepublik seit 1945 in dieser Frage erhält, kann auch hartgesottene Verfechter des Rechtsstaats zur Verzweiflung bringen.

So jedenfalls geht es dem Leser des neuen Buchs von Clemens Vollnhals, das sich mit dem Prozeß gegen die Richter und Staatsanwälte beschäftigt, die 1976 und 1979 Robert Havemann zu Hausarrest und später wegen Devisenvergehens zu einer Geldstrafe verurteilten. Sie sind 1997 in einem Verfahren in Frankfurt (Oder) vom Vorwurf der Rechtsbeugung freigesprochen worden. Das Ergebnis des Revisionsverfahrens steht jedoch noch aus.

Joachim Widmann resümierte die Freispruchsbegründung des Frankfurter Gerichts in der Berliner Zeitung: „Keinem der Angeklagten sei bewußt gewesen, daß mit den Strafverfahren sachfremde, politische Ziele verfolgt wurden. Sie hätten auch nicht erkannt, daß sie Teil einer Kampagne des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der SED zur ,Zersetzung‘ des Bürgerrechtlers gewesen waren.“

Die historische Recherche aus der Gauck-Behörde dagegen, deren Ergebnisse Vollnhals bereits im Prozeß in Frankfurt (Oder) vortrug und die nun in überarbeiteter Form vorliegt, läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei den Prozessen, die 1976 und 1979 gegen Robert Havemann geführt wurden, um ein „Lehrstück politischer Justiz“ handelte, Teil einer massiven Einschüchterungs- und Zersetzungspolitik, die das MfS immer in direkter Absprache mit Erich Honecker gegen seine wichtigsten Staatsfeinde Wolf Biermann und Robert Havemann führte. Schließlich ging es um die prophylaktische Zerstörung einer Bürger- und Menschenrechtsopposition, wie sie in Polen (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter/KSS-KOR) und der CSSR (Charta/77) in diesen Jahren entstand.

Zu Beginn der 70er Jahre hatte die SED zunächst an eine Ausbürgerung beider Dissidenten gedacht, war sich freilich des Risikos heftiger internationaler Reaktionen bewußt. Nachdem dann der Entzug der DDR-Staatsbürgerschaft bei Wolf Biermann im November 1976 die SED international und in der DDR unter heftigen Druck brachte, „beschränkte“ sich das MfS darauf, Havemann in der DDR vollständig zu isolieren, und versuchte, seine bestehenden Kontakte, Freundschaften bis hin zur Ehe zu zerstören. Viel Energie verwendete man auch darauf, Robert Havemann eine Zusammenarbeit mit den Nazis in den Jahren 1933 bis 1945 nachzuweisen, um den internationalen Ruf des Widerständlers zu zerstören, auch dies jedoch mißlang.

Ebensowenig wie das Gericht kann Vollnhals aber die genauen Tatbeiträge der 1997 angeklagten Richter und Staatsanwälte klären, da die Verfasser einiger der entscheidenden Dokumente, eben jene „Konzeptionen“, mit denen sich SED, MfS und „Justizfunktionäre“ (Vollnhals) auf den Ablauf der Verfahren und ihren Ausgang einigten, nicht zweifelsfrei bestimmt werden können. Die Indizien sind freilich erdrückend, denn die „Konzeptionen“ liegen ja vor und die in ihnen niedergelegten Verfahrensweisen wurden auch eingehalten. Von dieser Lücke profitierte bereits die Verteidigung der Richter und Staatsanwälte in dem Verfahren in Frankfurt (Oder) 1997. Die Praxis der mitunter konspirativen Zusammenarbeit zwischen Justiz, SED und MfS läßt im nachhinein zwar die Strukturen ihrer Kooperation zweifelsfrei erkennen, die individuellen Tatbeiträge jedoch verschwinden, sofern es keine Zeugen gibt, die jene Verbrechen bestätigen. Die Beteiligten selbst jedoch schweigen.

Bedauerlich ist, daß Vollnhals, der eine große Anzahl der entscheidenden Schriftstücke über die Zusammenarbeit von SED, Justiz und MfS dokumentiert oder zum Beispiel den Recherchestand zur IM-Tätigkeit Gregor Gysis, des Anwalts von Havemann, präzise referiert, ein wesentliches Dokument ungedruckt läßt: die Arbeit des MfS-Offiziers Udo Sievers vom Juni 1977, der am Beispiel des Verfahrens von 1976 gegen Havemann die Kooperation zwischen MfS, SED und Justiz schilderte und als besonders gutes Beispiel für ähnlich gelagerte Fälle hervorhob. (Archiv der Gauck-Behörde: VVS JHS 001-109/77) Sievers Aussage im Prozeß in Frankfurt (Oder) 1997, er habe mit diesen Schilderungen lediglich bei seinem Chef Eindruck schinden wollen, kann getrost als Schutzbehauptung bezeichnet werden.

Angesichts des schreienden Widerspruchs zwischen den Ergebnissen seiner historischen Recherche und der juristischen Urteilsfindung im Prozeß 1997 warnt Vollnhals die Leser: „Das Strafrecht ist aufgrund des Rückwirkungsverbots kein scharfes Schwert zur Ahndung massenhaften systembedingten Unrechts. Belangt werden können im wesentlichen nur einzelne Exzesse, nicht jedoch die strukturelle Indienstnahme einer willfährigen Justiz und die hemmungslose Instrumentalisierung des Rechts für den parteipolitischen Machterhalt.“

Ein etwas abgeklärt wirkendes Urteil. Vollnhals plädiert jedoch gleichzeitig für ein Überdenken des Rückwirkungsverbots. Das Buch ist sehr empfehlenswert, besonders natürlich für den Richter und die Anwälte, die am 8. Dezember vor dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Leipzig in öffentlicher Sitzung über das Verfahren und Urteil in Frankfurt (Oder) zu verhandeln und zu befinden haben. (Aktenzeichen: 5 Str 322/98) Das letzte Wort im „Fall Havemann“ ist hoffentlich noch nicht gesprochen.

Clemens Vollnhals: „Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz“. Chr. Links Verlag, Berlin 1998, 308 Seiten, 30 DM