Paris hofft auf neuen Schwung

In Frankreich ist Schröders Programm eine große Unbekannte. Aber das macht nichts, denn auch Präsident Chirac gilt als unberechenbar. Und Regierungschef Jospin hat seit Sonntag eine Ausrede weniger  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Die „Stunde Schröder“. „Schröder entthront Kohl.“ Deutschland „beendet eine Epoche“. Die „Republik von Berlin“. So titelte gestern die französische Presse über die Bundestagwahlen. Doch anstatt Analysen über die bevorstehende neue Ära zu liefern, beschränkten sich die KollegInnen auf laute und lange Adieus an jenen Mann, an dessen Silhoutte sie sich in den vergangenen 16 Jahren gewöhnt hatten. Sie schrieben über den Mauerfall, die deutsche Vereinigung, den Euro, die EU und Kohl mittendrin. Über Schröders Programm hingegen wußten sie auch gestern noch nicht genug, um ihre Zeitungen zu füllen.

Diese Grauzone eröffnet nicht unbedingt ein neues Problemfeld zwischen den Nachbarländern. Auch der oberste Politiker Frankreichs ist ein unberechenbarer. Weder bei Gerhard Schröder, noch bei Jacques Chirac, so erklärt der Politologe Alfred Grosser, „weiß man, was sie am nächsten Tag sagen werden“. Chirac hatte in Bonn Angst und Schrecken verbreitet, als er 1995 im Präsidentschaftswahlkampf durchblicken ließ, vor der Einführung des Euro wolle er erneut ein Referendum durchführen. Schröder sorgte in Paris für Aufregung, als seine Euro-Skepsis bekannt wurde, sowie seine Vorstellung eines „Dreiecks“ mit London, das die bisherige deutsch-französische Achse ersetzen solle.

Chirac hat sich nach der Wahl umstandslos in die von seinem Amtsvorgänger festgelegten Regeln im europäischen und deutsch- französischen Umgang gefügt. Von einem Referendum war seither keine Rede mehr. Auch die versprochene europäische Sozialpolitik geriet in Vergessenheit. Allerdings wurden die bilateralen Treffen seltener als zu François Mitterrands Zeiten, und es kam auf dem letzten großen EU-Gipfel beinahe zum Eklat, als Kohl dem Franzosen den Brocken Duisenberg aufzwang und Chirac seinen Kandidaten Trichet nur für die zweite Hälfte der ersten Amtszeit durchsetzen konnte.

Daß dergleichen Inkompatibilitäten nach dem nunmehr auch in Deutschland vollzogenen Generationenwechsel verschwinden, erwartet man in Paris zwar nicht. Wohl aber neuen Schwung. Nach der Wahl bekam Schröder umgehend eine Einladung von Chirac nach Paris, „wenn möglich noch diese Woche“. Schröder akzeptierte – und hielt sich damit bereits an die seit Jahren eingespielten Regeln. Am Donnerstag wird er erstmals dem unberechenbaren obersten Franzosen begegnen.

Außen- und europapolitisch will Paris keine großen Umorientierungen oder gar Brüche bei Schröder erkennen. „Dazu sind die Wege in Europa viel zu gefestigt“, lautet die Auskunft unisono vom Außenministerium bis zum Élysée-Palast. Gefolgt von einer Auflistung der anstehenden Themen, unter denen die in Paris entschieden wichtig genommene institutionelle Reform der EU, von der Schröder bislang noch gar nicht spricht, an oberster Stelle steht – noch vor der Osterweiterung der Gemeinschaft.

Die öffentlichen Zweifel an Schröder überließen sowohl SozialistInnen als auch NeogaullistInnen einem Mann, der heute ein wenig abseits der Macht steht. Exstaatspräsident Valéry Giscard d'Estaing bemängelte in Le Monde die „Ambivalenz“ in der Europapolitik von Schröder. Beunruhigt will er in ihr eine Haltung erkannt haben, die kein Bundeskanzler zuvor gezeigt habe. Die an stabile Verhältnisse im Nachbarland gewohnten französischen Medien stiegen erst spät in den deutschen Wahlkampf ein. In den letzten zwei Wochen freilich schickten sie SonderberichterstatterInnen in alle deutschen Landesteile, deren Hauptinteresse bei der sozialen Lage und bei dem befürchteten Erstarken rechtsextremer Parteien lag.

Die französischen SozialistInnen, die ursprünglich keinen Hehl aus ihrer Sympathie für Lafontaine gemacht hatte, zeigten am Wahlabend Freude über den Schröder- Sieg. Von Überschwenglichkeit angesichts eines nunmehr noch sozialdemokratischeren Europas konnte freilich keine Rede sein. Klar ist, daß Regierungschef Jospin nun eine Ausrede weniger hat, wenn ihm keine europäische Arbeitsmarktpolitik gelingt. Niemand kann jetzt mehr Kohl als Verantwortlichen für die Stagnation in Europa vorschieben.