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Die Waisenkinder des Franz von Assisi

Vor einem Jahr bebte in Umbrien die Erde. 80 Prozent derer, die damals ihre Bleibe verloren, leben bis heute in Notcontainern. Die Kunstwerke sind wiederhergestellt  ■ Aus Assisi und Nocera Umbra Werner Raith

Wenn die Rede auf die Erdbebenschäden kommt, findet Italiens stellvertretender Ministerpräsident und Kulturminister Walter Veltroni durchgehend lobende Worte – für sich, sein Ressort, die Regierung: „So schnell, wie wir hier eingegriffen und unbürokratisch vorgegangen sind, soll uns das einmal jemand nachmachen“, tönt er ein ums andere Mal. Man brauche sich nur anzusehen, in welcher Rekordzeit der schwer betroffene Dom von Assisi wieder zugänglich gemacht, das Beschädigte abgesichert, der ursprüngliche Zustand rekonstruiert wurde; sogar der Papst habe bereits wieder eine Messe dort halten können. „Wir werden so weitermachen.“

„Um Himmels willen“, entfährt es da Gianmarco Fiorini, „bloß das nicht.“ Der Bauer aus der Nähe von Nocera Umbra, einem der am stärksten betroffenen Gebiete, hat in den vergangenen Monaten gelernt, daß er seine Lage nur noch mit Sarkasmus meistern kann. „Unser guter Veltroni. Na ja, in gewissem Sinn hat er auch recht. Es kommt halt darauf an, wo man sich hinstellt und die vollendete ,Schadensbeseitigung‘ besichtigt. Auf der Via San Francesco bis hin zum Dom in Assisi scheint alles sogar noch viel schöner als vor dem Beben. Aber beugen Sie sich nur ein wenig über die Brüstungen, nehmen Sie einen Feldstecher und gucken Sie rundum – da meinen Sie noch immer Trümmer vom Weltkrieg zu sehen.“

Das ist nicht übertrieben. Nur wenige Kilometer von der spektakulär restaurierten Assisi-Innenstadt ist nahezu alles noch so wie vor einem Jahr, als die Erde in Umbrien, den Marken und der Macerata zu beben begonnen hat und ein halbes Jahr nicht mehr zur Ruhe kam; ein Dutzend Tote waren zu beklagen, Tausende Verletzte, an die 80.000 verloren ihre Wohnung. Nur die Straßen sind inzwischen freigeräumt.

Daß neben den beiden Hauptkirchen von Assisi auch zahlreiche andere kulturell wertvolle Gebäude zusammengebrochen sind – mitunter wurde der Einsturz ganzer Kirchtürme live im Fernsehen übertragen –, ist der Öffentlichkeit längst entfallen. Und ebenso wenig Interesse finden die Tausenden von Menschen, die seither in Notunterkünften hausen: Wohncontainer von gerade mal 25 bis 40 Quadratmeter Größe, zugig oft, weil schon mehrmals gebraucht und entsprechend zerbeult; mit Heizungen, deren Gasflaschen an kalten Tagen wiederholt ausgewechselt werden müssen, und Straßen, die zwar mit Kies belegt und planiert, aber bei starkem Regen unpassierbar sind. Nächsten Winter, hatte die Regierung 1997 versprochen, werde niemand mehr in solchen Behelfsunterkünften wohnen – doch 80 Prozent der obdachlos Gewordenen sehen nun erneut der kalten Jahreszeit entgegen, ohne Hoffnung, wieder in ihre Häuser oder in neue Gebäude einziehen zu können.

So geht es auch Gianmarco Fiorini. Auf der Fahrt von Assisi zu seinem ehemaligen Hof unterhalb Nocera Umbra zeigt er auf die einzelnen Gebäude, kleinen Orte, Einödhöfe: „Da, das ist der Hof von Bernardo. Der hatte einen ganzen Park von Fahrzeugen, vom Maisernter bis zum Heugabler, die haben sich die Bauern ringsum früher ausgeliehen, aber der Einsturz seiner Garage hat sie alle so schwer beschäödigt, daß man sie nicht mehr verwenden kann; neue kriegt er, viellicht, nächstes Jahr.“ Weiter vorne der Hof eines Vetters von Gianmarco, er hatte voriges Jahr zwei neue große Melkhallen gebaut – eingestürzt; die Blechdecken sind inzwischen verrostet, Gras überzieht die Ziegelhalde. Bei Piano delle pieve eine Werkstatt, von der nur mehr das Hinweisschild auf der Straße zeugt.

Schließlich Gianmarcos eigener Hof, dessen südlicher Teil noch immer mehr einem Schutthaufen ähnelt denn Gebäuden: Zwei Brandmauern haben gehalten, das Dach ist in mehrere Teile zerborsten, der Stall in sich zusammengesunken. „Abrißreif“, hat der Techniker vom staatlichen Überwachungsamt dekretiert – was bedeutet, daß Gianmarco hier nicht einmal mehr auf intakten Teilen der Gebäude wieder aufbauen darf. Die staatlichen Gelder für einen Neubau sind zwar offiziell angekommen – aber noch nicht verteilt. Und längst ist nicht mehr von großen Zuschüssen die Rede, sondern nur noch von Krediterleichterungen für einige Jahre.

Aber die meisten Landmenschen schieben, wie Gianmarco, ohnehin einen großen Berg Schulden vor sich her, wegen der europäischen Agrarpolitik. „Woher soll ich denn das Geld zur Rückzahlung neuer Hypotheken nehmen?“ Seinem Nachbarn Edoardo geht es noch schlimmer – als er einen Antrag auf ein Wiederaufbaudarlehen stellen wollte, sagte ihm der zuständige Bankdirektor klipp und klar, daß er „mit keiner Lira rechnen“ könne, weil ihm einige Wechsel geplatzt seien. Was allerdings nach der Katastrophe von 1997 kein Wunder war, denn kaum jemand der Geschädigten konnte hier noch seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Aber was kümmert es den Banker – der freut sich. Die Gelder parken inzwischen in seinem Institut, und je später sie ausgezahlt werden, um so besser die Jahresbilanz.

Er solle doch den Beruf wechseln, war die Antwort aus dem regionalen Landwirtschaftsressort, an das sich Gianmarcos Nachbar dann gewandt hatte, „dies ist doch eine einmalige Gelegenheit für Sie, diese unrentable Tätigkeit zu beenden“. Ein Satz, für die Edoardo „den Kerl hätte erwürgen können“: Angesichts fast vier Millionen Arbeitsloser ein tatsächlich nur schwer von blankem Zynismus unterscheidbarer Rat.

Wieso die Hilfen so schleppend kommen, weiß niemand – schließlich hatte die Regierung innerhalb weniger Wochen angeblich mehr als umgerechnet eine Milliarde Mark lockergemacht, teils von der EU, teils aus Fonds für das Heilige Jahr, teils aus eigenen Notfallmitteln. Überdies hatten sich die Italiener und auch viele Ausländer so solidarisch wie nie gezeigt – innerhalb von vierzehn Tagen waren umgerechnet mehr als 20 Millionen Mark Hilfsgelder auf Spendenkonten eingegangen, am Ende waren es über 30 Millionen.

„Aber die“, vermutet Gianmarco, „sind wohl alle nach Assisi gegangen, um die Giottos und Cimabues wiederherzustellen und vielleicht auch ein paar düstere Bauunternehmer zu sanieren.“ Einige Verfahren wegen Unregelmäßigkeiten bei den Notfallarbeiten sind in der Tat im Gange. Daß die Kirche die Gelder für die Restaurierung gerne angenommen, aber nicht viel für die Opfer getan hat, ist den Umbriern bis heute nicht verständlich.

Bauer Fiorini ist im vergangenen Jahr bei Verwandten untergekommen, die nahe Perugia, nördlich von Assisi, ebenfalls einen Hof haben und nur geringe Schäden davongetragen haben. Da arbeitet er „faktisch als Knecht“; seine Frau Emilia, die vordem in Nocera eine kleine Turnschule betrieb, kann ihren Beruf hier aber nicht ausüben, weil man ja sonst den hier Eingesessenen unziemliche Konkurrenz machen würde, und die zu Hause in Nocera ist nicht wieder freigegeben.

In den Containerstädten gibt es zwar Zelte für den Schulunterricht, aber an Gymnastik oder Ballett ist da natürlich nicht zu denken. Die Kinder von Emilia und Gianmarco sind am neuen Arbeitsort eingeschult worden, werden aber von den Lehrern immer öfter gefragt, wann sie wieder weggehen: Obwohl in vielen Orten zahlreiche Neuzugänge aus den am schwersten betroffenen Gebieten zu vermelden sind, wurde das Lehrpersonal nicht aufgestockt.

Es ist wohl gerade dieser „Schwebezustand“, der den Menschen im Erdbebengebiet so schwere Sorgen macht: „Man weiß nicht“, sagt Emilia, „ob man sich auf Dauer hier einrichten muß, oder ob man doch mal wieder zurück kann oder muß – beides sind ja durchaus unterschiedliche Perspektiven.“

Die Regierung begründet ihr vorrangiges Eintreten für die Restaurierung der Kulturdenkmäler damit, daß „davon ja der Fremdenverkehr abhängt und damit unzählige Einkommensquellen in der Region“. Das sieht in der weiteren Umgebung von Assisi allerdings kaum jemand ein: „Das hätte – vielleicht – alles seinen Sinn“, sagt Gianmarco, „wenn wir bereits alle wieder in unseren Höfen, Werkstätten oder Läden arbeiten könnten. Aber wie es aussieht, gibt es jetzt einen kurzen Boom für Assisi, weil die Fremden sehen wollen, wie die Restaurierung gelungen ist, und vielleicht ist auch ein wenig Gruseltourismus dabei. Aber dann ist auch das vorbei, und wir sind in der Situation wie früher – nur daß wir noch immer keine neuen Höfe und Hilfen für die Anschaffung unserer Geräte, unseres Viehs, unserer Samen und Pflanzen haben.“

Die Kinder der Betroffenen in den Containerstädten und den umliegenden Schulen lösen das Problem inzwischen auf ihre Weise. „Sehen Sie“, sagt Franca und zeigt uns die Zeichenmappe ihres Sohnes Carlo, 8, und seiner Schwester, 6: „Die malen Bilder von damals, als wir noch in unseren Wohnungen lebten, und manche auch, wie sie hoffen, daß es bald mal wird.“ Auf einem der Bilder ist der Papst zu sehen, wie er die Erdbebenopfer besucht. Darunter die Zeile „Der Heilige Vater hat geholfen“. Das „hat geholfen“ ist durchgestrichen, und daneben steht „wird helfen“.

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