Publikumsbeschimpfung

In einem Sammelband zu öffentlichen Reaktionen auf Daniel Goldhagens Buch wird, mit einer rühmlichen Ausnahme, jede Kritik der eigenen Zunft vermieden  ■ Von Eva Berger

Manchmal werden Historiker von ihrem historischen Gedächtnis verlassen. Auf dem diesjährigen Historikertag beschäftigte sich zum ersten Mal eine eigene Sektion mit der braunen Vergangenheit einiger Gründerväter der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte. Und prompt blockten ausgerechnet so kritische Geister wie Jürgen Kocka oder Hans-Ulrich Wehler jede tiefergehende Analyse ab. Wo ein Theodor Schieder den Nationalsozialisten Denkschriften verfaßte, die mit Vorschlägen zur „Entjudung“ besetzter Gebiete aufwarteten, konnte Kocka nur „ein hohes Maß an Anbiederung“ erkennen. Wehler verwahrte sich gleich präventiv gegen jede Form von „Sippenhaft“, von der nur niemand gesprochen hatte. Aus dem Mund von Historikern gewinnen solch altbekannten Euphemismen eine ganz eigene Note.

Es schien auch ein wenig Goldhagen-Nachbeben zu sein, was da den Kongreß zucken ließ. Vor zwei Jahren hatte man von oben noch die offizielle Beschäftigung mit der Debatte um die „Willigen Vollstrecker“ abgewehrt. Und damit ein ähnliches Nichtgespür für das Weiterleben der Geschichte bewiesen, wie sie in der öffentlichen Diskussion zutage getreten war. Angeblich lehnte man nur ein „nicht diskussionswürdiges“ Buch ab und bewahrte sich vor unnötiger „Anbiederung“ an den Publikumsgeschmack. Gleichzeitig verweigerte man so aber auch jede Reflexion über das eigene Fach. Versäumnisse der Forschung wollte man nicht erkennen.

Die Goldhagen-Diskussion war aber gerade bemerkenswert, weil sich namhafte Holocaustforscher recht unsensibel bezüglich der Geschichte und der Empfindlichkeiten von Holocaustgeschichtsschreibung zeigten. Die Heftigkeit und teutonische Akribie, mit der alle Beteiligten losruderten, als das kleine Stichwort vom „deutschen Antisemitismus“ gefallen war, hatte nur teilweise mit der Auseinandersetzung um „Fakten“, Methoden oder falsche Quellenarbeit zu tun. Es ging vor allem um Meinungsführerschaft im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs. Und in dem will man scheinbar keine Beschäftigung mit individuellen Vernichtungsmotivationen deutscher Bürger mehr zulassen.

„Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen“ versucht nun das Verhältnis zwischen Historiographie und Gesellschaft unter den medialen Produktionsbedingungen der 90er Jahre auszuloten. Daß dieses Verhältnis gestört ist, wurde klar, als sich abzeichnete, daß das deutsche Publikum nicht bereit war, den Maßgaben der historischen Zunft zu folgen, sondern statt dessen Goldhagen einen Gutteil der Sympathien schenkte. Bei der Verortung und Analyse dieser Störung setzt leider auch in diesem Buch meistens die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion aus.

Wolfgang Benz konstatiert im Vorwort eine „Spaltung, wenn zeitgeschichtliche Phänomene Gegenstand der Reflexion sind“, und auch wenn es ausdrücklich nicht um Publikumsbeschimpfung gehen sollte, sehen die meisten Schreiber es als selbstverständlich an, daß das „Problem“ des Mißverständnisses auf Seiten der Öffentlichkeit liegt. Eine Öffentlichkeit, deren langsam arbeitender Verstand so tadelnswert dem vorwärtsschreitenden Forschungsstand hinterherhinkt.

Steven E. Aschheim ist als einziger Autor in der Lage, die Debatte in einem größeren historischen Rahmen holocaustforscherlicher Empfindlichkeiten zu rücken. Indem er die Geschichte des „deutsch-jüdischen Dialoges“ nachzeichnet, macht er die Heftigkeit der (Re-)Aktionen aller Beteiligten verständlich. Bei der Auseinandersetzung über die „wissenschaftliche Wahrheit“ des „Zivilisationsbruches“, wird nicht nur um die Reinheit von Fakten und ihre „authentische“ Darstellung gekämpft. Hier wird auch um Eigentümerschaften der Geschichte gestritten, ein Streit mit Deutschen und Juden als „Hauptdarstellern“, ein Streit, bei dem sich subjektive Empfindlichkeiten hinter wissenschaftlicher Distanziertheit manchmal nur schlecht verbergen, aber zwangsläufig miteinfließen.

Beim deutsch-jüdischen Dialog spiegelt sich im Verhalten der Protagonisten „ein gewisser Eros, eine gegenseitige Anziehung“, die genauso in heftige Ablehnung umschlagen kann, in unausgesprochene Vorwürfe und Schuldzuweisungen oder Schuldbekenntnisse. Goldhagen versucht, wenn er den Holocaust zum überdimensionierten deutsch-antijüdischen Pogrom „reduziert“, „den Juden sozusagen die Shoah zurück(zugeben)“, deren Erinnerung er in den anderen Forschungen so bedrohlich verschwinden sieht. Umgekehrt konnten die Kritiker dieses Bedürfnis kaum nachvollziehen, als sie mit der Dekonstruktion der „Willigen Vollstrecker“ gleichzeitig den Interpretationsrahmen ablehnten und damit die Berechtigung partieller Erinnerung. Daß umgekehrt ihre Ansätze genauso nur einen partiellen Zugriff auf die Quellen zulassen, übersahen sie dabei.

Die angeblich „multikausal“ vorgehenden Argumentationen, in denen der Antisemitismus eine Rolle unter vielen Vernichtungsmotiven spielt, lassen fast immer den Holocaust zum Symbol „menschlicher Fähigkeit zum Bösen“ gerinnen. „Wenn alle schuldig sind, ist es keiner... Dieser Ausspruch ist noch problematischer, wenn er von einem Deutschen vorgebracht wird, weil er besagt: nicht unsere Eltern, sondern die Menschheit hat diese Katastrophe verursacht. Das ist einfach nicht wahr.“ (Hannah Arendt) So kehrt sich der Vorwurf gegen Goldhagen gegen seine Kritiker, denn auch sie sind nicht in der Lage, die ganze Geschichte der Quellen zu erzählen. Das ist kein wissenschaftliches Fehlverhalten, es liegt vielmehr in der Natur des Untersuchungsgegenstands. Mit dem Schlagwort des „Zivilisationsbruchs“ markierte sich auch einmal die Einzigartigkeit des Ereignisses in seiner Uneindeutigkeit, in der Unmöglichkeit, diese Vernichtung jemals ganz zu begreifen und damit eine eindeutige Wahrheit und Erinnerung möglich zu machen. Holocaustforschung heißt, den Verstand am Ereignis scheitern lassen zu müssen. Das macht die Goldhagensche Behauptung, endlich die letztgültige Erklärung für den Holocaust gefunden zu haben, so unmöglich. Genauso wie die Reaktionen der Kritiker, die sich auf die gleiche Logik einer ausschließenden „Beweisführung“ einließen.

Das Ganze hatte eine durchaus tragische, aber auch positive Komponente. So lange noch dialogisiert wird, hält sich die Erinnerung wach. Schade, daß während der Debatte so selten auf die notwendige Ergänzung der verschiedenen Interpretationsverständnisse aufmerksam gemacht wurde. Das hätte zumindest ein wenig Licht in das Herz der Finsternis gebracht. Aschheim, mit seiner angenehm unempörten Analyse, stellt in diesem Sinne einen kleinen Leuchturm des Verstehens in der Flut der Goldhagen-Kommentare dar.

Für fein verhüllte Empörung sind andere Autorinnen des Buches zuständig, vor allem dann, wenn es um das Verhalten des Publikums geht.

Man muß sich durchaus fragen, inwieweit aus den Sympathien für Goldhagen allzu glatte Büßergesten herauszulesen sind, die mit einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe nur marginal zu tun haben. Sicherlich wäre das ein Fall für eine psychoanalytisch argumentierende Geschichtsforschung (genauso wie das Verhalten der Historiker). Solche Analyse kann das Buch nicht leisten, da, laut Benz, diese Forschung noch in den Kinderschuhen stecke. Am Ende der 90er Jahre mag man das einfach nicht mehr glauben.

Aber auch ohne Psychoanalyse kommt es in den Betrachtungen zur Öffentlichkeit kaum zu mehr als der Produktion wissenschaftlicher Vorurteile. Man hält sich brav an die Fachtradition und seziert die Gesellschaft wie eine sterile, tote, historische Struktur. „Publikum“ ist entweder eine anonyme Masse hinter der Auflagenzahl 200.000 (verkaufter Exemplare der „Willigen Vollstrecker“). „Nicht repräsentative“ „Fiktionen“ aus der Mitte der„Jedermann-Gesellschaft“, wie ein Autor so geziert um die Öffentlichkeit herumeiert. Und schon greift man zur allzeit bereiten Generationenklammer, das „Problem“ zu erfassen. Der eine verortet die Sympathisanten in der jungen Generation, deren massenmedialen Sehgewohnheiten mit der Goldhagenschen Erzähltechnik so schön bedient werden. Ein Generationenbruch wissenschaftlicher Darstellung, in der die alten Welten „visueller Tabuisierung“ den golfkriegserprobten Welten „obsessiven Hinsehens“ weichen müssen.

Raul Hilberg schmeißt mal eben die zweite Nachkriegsgeneration in den Zusammenhang. Ewig diese 68er, diese Primitivlinge. Nachdem denen schon die Auseinandersetzung mit den schweigenden Eltern mißglückte, bekamen sie mit dem Goldhagen-Wälzer nun endlich wissenschaftliche Fakten an die Hand, den moralischen Zeigefinger in den bösen Vorfahren zu bohren. Das alles ist so schön bedenkenswert, so pauschal und einfach, so wahr wie falsch. Kein Wissenschaftler kommt auf die Idee, seine klugen Gedanken auch nur einmal empirisch zu überprüfen. Unter siebzehn Aufsätzen findet sich niemand, der einen ethnologisch-„kommunikativen“ Zugang zum geheimnisumwitterten Publikum wählt. Einem Buch, das sich angeblich für die Gesellschaft interessiert, über die es schreibt, hätten ein paar „nicht repräsentative“ Interviews mit den „Fiktionen“ besser angestanden als Publikums- Bashing im wissenschaftlichen Mäntelchen.

Im forscherlichen Distanzgebaren, das in solchen Analysen zum Ausdruck kommt – den Vogel schießt dabei Werner Bergmann mit seiner naiven, Luhmann-geschulten „Enthüllung“ der Goldhagen-Debatte als „Medienhype“ ab –, kann man eine Ursache sehen für das gestörte Verhältnis zwischen Historiographie und Gesellschaft. Eine Fachkritik, die sich immun gibt gegen die Zumutungen eines Wiederauftauchens der Vergangenheit in der Gegenwart, verspielt ihren öffentlichen Kredit. Zum Glück gibt es Wissenschaftler wie Aschheim, die die historische Zunft auf den Boden der Gesellschaft zurückzuholen vermögen. Und auch die Herren Wehler und Kocka kamen mit ihren Abwiegelungen nicht mehr gut an. Insofern wünschen wir der Geschichtswissenschaft gute Besserung.

Johannes Heil, Rainer Erb (Hrsg.): „Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen“. Fischer Taschenbuch 1998, 26.90 DM