Scharf geschnittene Kunstfiguren

Warhols „Factory“ revisited: Warum auch das Kunstmuseum Wolfsburg nicht bei Guggenheim bestellen sollte  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Irgend etwas ist mit Andy Warhol – am Ende dieses Jahrhunderts, wie es Leute mit Sinn für das Tragische gerne ausdrücken. Seit Jahren kehrt er wieder, in Ausstellungen, Büchern und Merchandise; in Parallelen, Zitaten und Plagiaten. Da ist es wieder, das schwarzweiße Raster am Grund einer krassen, aber nicht sprechenden Farbe, die simple Frontalität in den Porträts, das zum Muster gestanzte Ornament, die Vakuumsprache („I love boring things“).

Gibt es neues Material zu entdecken, entlegene Zeichnungen, verwegene Polaroids, persönliche Paraphernalia, geniale mitgeschnittene Konversationen oder übertrieben banale Filmschnipsel? Ja, es gibt das alles, und je größer eine Ausstellung ist, desto mehr wird davon sichtbar. Aber nicht das ist es, was an Warhol anziehend ist – das unerschöpfliche Werk –, sondern die Figur des Künstlers, der die Figur des Künstlers entleert hat, bis ein Rätsel übrigblieb. Man will es entschlüsseln. Auf der einen Seite der Mann, der singulär war, einsam vielleicht; auf der anderen Seite das Kollektiv, ein Stamm von Leuten, die sich noch heute im Kempinski einquartieren und gegen Honorar zum Eröffnungsessen laden lassen, nur weil sie dabei waren, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit, das blaue Blut der Subkultur. Und wie hießen sie noch mal?

In dieser Frage, zum Beispiel, hätte man sich Aufschluß erhofft von einer Ausstellung, die „Andy Warhol – A Factory“ heißt und von einem der letzten deutschen Museen, die man noch als rundum funktionierend bezeichnen kann, an Bord geholt wurde: dem Kunstmuseum Wolfsburg, das es seit fünf Jahren gibt. Aber jetzt ist es mit dem Herbstfahrplan der Bundesbahn gerade auf die ICE-Landkarte gesetzt worden; 71 Minuten vom Bahnhof Zoo. Geliefert hatte Germano Celant, italienischstämmiger Kurator am Guggenheim Museum in New York, das längst nicht mehr identisch ist mit dem langgezogenen Fragezeichen des Architekten Frank Lloyd Wright, sondern ein Blockbuster-Unternehmen ist, das für Wanderausstellungen mit Garantien winkt. Thema wichtig, Kunst viel, Inszenierung zwischen glänzend und überstrahlt.

Die zentrale Halle des Museums hat viel von einer Fabrik, aber die Ähnlichkeit wird nicht genutzt. An den hohen, sehr hohen vier Wänden hat man Warhol-Tapeten angebracht, mit vier Motiven, zwei menschlichen und zwei animalischen. Das Endlosfutter kann man beim Warhol-Museum in Pittsburgh bestellen. In einer aufgebockten Barracke kann man Warhols Filme sehen, jedenfalls einige; die Technik der doppelten Projektion ist nicht verfügbar.

So gewinnt die Ausstellung ihre besten Momente aus dem konventionellen Material. Ein kurzer Blick auf das Frühwerk – die Arbeit eines geschickten Illustrators mit einem Faible für das Naive – bringt ein Tuschezeichnung von 1951 zutage, die einen jungen Mann von deanesker Coolness zeigt, der sich eine Spritze in die Armbeuge setzt. Ein 1968er Siebdruck auf Silberfolie – ein Still aus dem „Blue Movie“ – zeigt Mann und Frau in einem Moment nackter Keuschheit, die physische Integrität der Körper wirksam ausgespielt gegen die Zwielichtigkeit des materiellen Trägers. Ein paar Jahre später hat sich der Tabubruch verselbständigt: ein Sechser- Siebdruck reiht das entblößte männliche Geschlecht ein in die Ikonen der Fabrik, die ihre homosexuelle Wurzel dem interesselosen Wohlgefallen anheimstellt („Torsos [Six]“, 1977).

Wenn es zu dieser Ausstellung irgendeine Idee gab, so hatte sie der Chef der Kommunikationsabteilung von Volkswagen (der Konzern ist Sponsor), Klaus Kocks, der den erstaunten Journalisten folgende These zu bieten hatte: Andy Warhol sei eigentlich als Satiriker zu verstehen. Das „kulturrevolutionäre Klima des freak out“, angeschoben durch Frank Zappa (so Kocks), sei „der satirische Boden, auf dem die Repro-Maschinen der Warholschen Factory stehen (...) Siebdruckterror statt literarischem Salon“.

Von Germano Celant ist dagegen nur dummes Zeug zu hören. Warhol habe gearbeitet wie ein Zigeuner: „Wenn er mit einer Sache beschäftigt ist, und ein Huhn taucht auf, folgt er dem Huhn.“ Mit dem rassistischen Stereotyp will der jetsettende Kurator die Unüberschaubarkeit des Werks belegen, dessen Kunstgattungen er unzutreffend als „Sprachen“ bezeichnet. Seine eigene Bilderhängung hält er für „sehr orgasmisch“. Sie war in zwei Tagen erledigt. Man fragt sich allerdings: Und was haben sie am zweiten Tag gemacht?

Irreführend ist die silberne Aufmachung in der Ausstellungswerbung, weil sie eine Aufarbeitung oder Analyse der berühmten „Silver Factory“ verspricht. Immerhin wurde dort ein Modell von Arbeiten und Wohnen erfunden, das späterhin in Tausenden von Lofts nicht nur der westlichen Welt Schule gemacht hat. Das Kollektiv war einzigartig; aber es war codiert auf den stummen Meister. Rechts und links fielen die Verstoßenen und die Drogentoten von der Bühne des Geschehens, während der Strom der Werke nicht abriß, und zu den Werken gehörte die Übersetzung von Charakteren in scharf geschnittene Kunstfiguren – die Transen und die „Superstars“.

Diese Höllenfabrik verschließt sich weder der Narration (zu sehen in einem Film wie „I Shot Andy Warhol“) noch der Analyse (wie in der brillanten Ausstellung „The Warhol Look: Glamour, Style, Fashion“, zur Zeit in Marseille). Aber Warhols Spruch, daß kaufen amerikanischer sei als denken, ist von Germano Celant leider nicht als Satire verstanden worden: die Leihgaben bestehen weit über das notwendige Maß hinaus aus den Ladenhütern dreier Galerien in Zürich, London und New York. Celants sophistische Begründung seiner faulen Initiative, mit deren modifizierter Version nach langer Wanderung er das eigene New Yorker Haus, das Guggenheim Soho, im Jahr 2001 beglücken möchte: „A Factory“ meine nicht die Factory, sondern Warhols serielle Produktion. Die man allerdings schlecht erkennen kann, wenn Werkphasen mit einzelnen Werken repräsentiert werden, wie die „Shadow Paintings“ zum Beispiel. Wäre doch der Zigeuner nicht dem Huhn gefolgt.

Es ist wirklich an der Zeit, die Factory in Werk und Quellen kunst-, film- und sozialgeschichtlich darzustellen. Ein leichtes wäre es, die fotografischen Werke nach ihren Autoren zu trennen, um die Beiträge von Leuten wie Billy Name, Stephen Shore und Nat Finkelstein in ihrer Eigenart sichtbar zu machen. Allein die Wiederentdeckung der Farbnegative Billy Names ist ein Wunder, das auf imaginative Kuratoren wartet. Dringend bräuchte man ein brauchbares Lexikon der Figuren der Factory: Ondine, Edie Sedgwick, Gerard Malanga, Nico, Brigid Polk, Paul Morrissey etc. Die vielen Zeitungsberichte und Illustriertengeschichten müßten elektronisch faksimiliert werden, so daß man im Material blättern könnte. Allein der Übergang der schlichten Factory-Poster zum Hippieplakat der Westküste wäre eine gründliche Studie wert: entlarvend, daß die schmale Selektion der Wolfsburger Show nur die Leihgeberin, nicht aber die Gestalter nennt; von einer korrekten Datierung mal ganz zu schweigen.

Es gibt einen einzigen Ort der Ausstellung, der mich anrührt – ein Holzturm mit fünf Kopfhörern, aus denen zugleich schallt: „Venus in Furs“, „All Tomorrow's Parties“, „Heroin“... Das Potpourri bringt in Sekunden rüber, was den Warhol-Komplex ausmacht: Die Zeit war elektrisch und der Raum auch. Die Wolfsburger Ausstellung aber ist eine tote Batterie. Hoffentlich steckt sich Volkswagen nicht an.

„Andy Warhol – A Factory“. Bis 10. Januar 1999, Kunstmuseum Wolfsburg. Katalog (mit einem Essay von Germano Celant!), 600 Seiten, kleines Format, 39 DM

Außerdem sehr empfehlenswert: Billy Name: „All Tomorrow's Parties“ (Farbfotos der Factory). frieze/London 1997, ca. 67 DM