Ankaras Schützenhilfe

■ Türkische Nationalisten wollen lieber die "reinrassige" Claudia Roth zur Ausländerbeauftragten als den "Vaterlandsverräter" Cem Özdemir

Berlin (taz) – Die Grünen-Europapolitikerin Claudia Roth hat für ihre Partei gestern gegenüber dpa einen EU-Kommissariatsposten gefordert und sich damit gleichzeitig als Kandidatin ins Gespräch gebracht. Ob die SPD den Bündnisgrünen allerdings die Berufung nach Brüssel zugestehen wird, ist noch offen. Denn über die Neubesetzung der EU-Kommission wird erst im kommenden Jahr entschieden.

Die zum linken Flügel der Partei zählende Politikerin, die neu in den Bundestag gewählt wurde, wird auch als aussichtsreiche Kandidatin für das Amt der Ausländer- und Integrationsbeauftragten gehandelt. Das bisherige migrationspolitische Aushängeschild der Bündnisgrünen, Cem Özdemir, der gestern in einem Interview mit der Heilbronner Stimme ebenfalls sein Interesse für das Amt bekundete, scheint bereits aus dem Rennen zu sein. Seine Chancen sinken angesichts der Forderung nach Einhaltung der Frauenquote bei der Besetzung der Ministerposten gegen Null.

Der Wunsch der Grünen nach vier Ministerien – zwei für Männer, zwei für Frauen – wird sich angesichts des überwältigenden Wahlerfolgs der SPD kaum erfüllen. Bleibt es aber bei drei Ministerien, von denen zwei bereits an Fischer und Trittin vergeben sind, wäre ein (unwahrscheinlicher) EU-Kommissariatsposten oder aber der Posten der Ausländer- und Integrationsbeauftragten mit erweiterten Befugnissen für die Grünen der Königsweg aus einem drohenden innerparteilichen Konflikt.

Unerwartete Schützenhilfe für ihre Ambitionen auf das Amt der Ausländer- und Integrationsbeauftragten erhält Claudia Roth aus der Türkei. Und das ausgerechnet von Ertug Karakullukcu, Chefideologe der nationalkoservativen Zeitung Hürriyet, der in der Vergangenheit Claudia Roth wegen ihrer Positionen im Kurdenkonflikt heftig attackierte. Bereits am 22. September, wenige Tage vor der Bundestagswahl, sprach sich Karakullukcu für Claudia Roth als künftige Ausländerbeauftragte aus. Claudia Roth würde, so der nationalkonservative Karakullukcu, die Interessen der Türkei besser als Cem Özdemir vertreten.

Begeistert ist Karakullukcu von Claudia Roths linken Positionen in der Ausländerpolitik, so etwa ihrer Forderung nach offenen Grenzen und dem Recht für Doppelstaatler, sowohl in Deutschland als auch in ihrer Heimat wählen zu dürfen. „Wir ziehen Cem Özdemir die reinrassige Claudia Roth vor. Warum? Denn Roth ist, wenn wir manche ihrer Ansichten auch nicht teilen, aufrichtig“, meint Karakullukcu. Cem Özdemir hingegen ist für den Agitator aus Ankara ein Vaterlandsverräter.

Karakullukcu, den „Eduard Schnitzler der Türkei“ (Die Zeit), stört, daß sich Özdemir zwar für eine doppelte Staatsbürgerschaft aber nur für ein Wahlrecht in Deutschland ausspricht und darüber hinaus die Förderung eines europäischen Islam fordert. Die wiederholte Kritik Özdemirs an der Einflußnahme Ankaras auf migrationspolitische Verbände in Deutschland sowie seine Forderung, den Islamunterricht in Deutschland nur von hierzulande ausgebildeten Lehrern erteilen zu lassen, veranlaßte Karakullukcu in der Vergangenheit immer wieder zu Schmutzkampagnen gegen Özdemir. Eberhard Seidel-Pielen