Blick auf „ein Terrarium voller Gartenzwerge“

■ Der Schriftsteller Urs Widmer über die Schweiz nach der Raubgoldaffäre, über den Antikommunismus als feste Größe und die seltsam kenntnislose Liebe der Deutschen zum Alpenland

taz: Herr Widmer, der Schwerpunkt Schweiz der diesjährigen Frankfurter Buchmesse legt uns nahe, daß wir uns mit der Schweiz beschäftigen sollen. Welche Gründe gibt es, das tatsächlich zu tun?

Urs Widmer: Ganz einfach: Die Schweiz hat eine reiche und lesenswerte Literatur.

Im Zusammenhang mit der Schweiz denkt man derzeit allerdings an andere Themen als an Literatur, etwa an nachrichtenlose Konten von Juden bei Schweizer Banken sowie die Debatte über Raubgold. Die Schweiz ist intensiv mit Identitätsfragen befaßt. Was läßt sich daraus lernen?

Wir können daraus lernen, daß auch wir Schweizer nicht das auserwählte Volk sind, sondern eine hundsnormale Nation, die sich eben auf ihre Weise auch durch das 20. Jahrhundert gemogelt hat. Seltsam ist dabei nur, wie lange sich in Schweizer Köpfen der Mythos eines unbefleckten Daseins halten konnte. Wer aufgepaßt hatte, wußte schon lange vom sogenannten Raubgold. Das entscheidend Neue daran ist, daß diese Debatte jetzt vom „Volk“ geführt wird, nicht mehr ausschließlich von Historikern, Künstlern und ein paar Politikern.

Hat die Erregung auch etwas mit der Neuordnung Europas nach 1989 zutun, in der die geopolitische Verortung der Schweiz plötzlich ungewiß geworden ist?

1989 hat in der Schweiz eine überraschend heftige Wirkung gezeigt. Damit rechneten wir zunächst gar nicht. Wir hatten schließlich keine DDR, mit der wir uns vereinigen wollten oder mußten. Aber der Wegfall unseres Popanzfeindes, des Kommunismus, hat die ganze Schweiz unglaublich verstört, aufgerührt und umgekrempelt. Antikommunismus war in der Schweiz eine feste, stabilisierende Größe.

Man hat hin und wieder den Eindruck, daß die Schweiz im wohlhabenden westlichen Europa auf ähnliche Weise nach einer Neupositionierung sucht wie andere Länder im Osten Europas.

Unsere Landesregierung will nach Europa, und die Intellektuellen – mit Ausnahme des Schriftellers Thomas Hürlimann – wollen das auch. Wer nicht will, ist der „Mann auf der Straße“. Der ist mißtrauisch, denn unsere Geschichte hat ihn gelehrt: Wenn wir uns raushalten, geht es gut. In zwei Weltkriegen hat das ja auch gestimmt. Nur eben, ganz raushalten konnten wir uns doch nicht. In einer unreinen Zeit kann man sich nicht rein verhalten. Das eigentliche Verbrechen war im übrigen nicht, daß die Schweiz sich durchtrickste, indem sie die Bank des Weltenmörders wurde. Das kann man, wenn nicht mit moralischen, dann aber mit strategischen Kategorien noch verteidigen. Die strategische Überlegung war: Hitler wird nicht so blöd sein, seine eigene Bank zu überfallen. Das eigentliche Drama hat 1945 stattgefunden, als die Schweizer Banken und die Regierung nicht sagten: Der Krieg ist vorbei, der Herr sei gelobt, wir haben das euch gestohlene Geld gehütet, hier habt ihr es wieder. Diese Chance wurde vertan. Statt dessen haben die Banken gelogen, daß sich die Balken bogen. Sie haben es so lange und intensiv getan, daß ich mich nicht wundern würde, wenn sie es sogar heute noch täten.

Wird der Buchmesseschwerpunkt Schweiz die Debatte weiterbringen, oder handelt es sich nur um eine Megaveranstaltung, zu der nichts als Bücher verkauft werden?

Na ja, die Buchmesse war einst mehr als heute eine intellektuelle Hauptstadt für fünf Tage. Heute wird eben gehandelt. Dennoch denke ich, daß wir die Chance nützen sollten, uns in Frankfurt zu zeigen. Die Deutschen lieben die Schweiz zwar – damit sind sie sogar ziemlich die letzten auf der Welt –, aber sie lieben uns so seltsam kenntnislos. Ihr beugt euch über uns wie über ein Terrarium voller Gartenzwerge und sagt: Ach, wie niedlich. Wir sind aber überhaupt nicht niedlich.

Wird sich die Diskussion um das Raubgold und die politische Rolle der Schweiz auch in der Literatur niederschlagen, oder geht es den Schriftstellern jetzt vor allem um eine Einmischungspolitik im Sinne des engagierten Intellektuellen?

Ich habe schon in meiner süßen Jugend um das Jahr 1968 herum nicht daran geglaubt, daß jedes Buch mit einem Schlag die Gesellschaft umkrempeln müsse. Das leisten Bücher einfach nicht. Wenn wir etwas eindeutig und direkt sagen wollen, dann sollen wir das der taz sagen oder einen Essay schreiben. Denn die Literatur ist das Medium der Mehrdeutigkeit, des Ambivalenten, des Verstörten, dessen, was jenseits des glasklaren Begriffs liegt. Interview: Harry Nutt