Der Himmel über Berlin

Erzieherische Disziplin: Carlo Bastasins „Deutschland von außen“  ■ Von Norbert Seitz

Daß italienische Autoren deutsche Verhältnisse lobpreisen, bleibt auch nach der Stabilisierung auf dem Apennin durch das „Oliven“-Bündnis die publizistische Regel. Carlo Bastasin beschränkt aber sein Deutschland-Resümee nicht nur auf die üblichen Aufmunterungen, in einer Berliner Republik möge ein wenig unverkrampfter zu Werke gegangen werden.

Berlin–Deutschland–Europa. Die Rückschau des langjährigen Deutschland-Korrespondenten der italienischen Wirtschafts-Tageszeitung Il Sole 24 Ore beginnt auf der „Asphaltfratze“ am Berliner Alex, wo „seit über 60 Jahren die Geschichte entgleist“. An keinem Ort der Welt halte die Vergangenheit so an den Menschen fest wie an der Spree. „Aber wo in Berlin ist Berlin?“ Wo hätten hier Gedanken Platz? Wo finde man Erkenntnis? Und „wo sollen die Kinder in diesen Straßen ohne Himmel spielen“, fragt sich Bastasin ein wenig romantisch am neuen Potsdamer Platz, der nicht einmal eine Narbe, „sondern nur das Symbol der üblichen Lügen“ darstelle.

Nochmals läßt der Autor die weltbewegende Chronologie von der Demo am 4. November 1989 bis zu Christos Reichstagsverhüllung im Sommer 1995 Revue passieren. Jenseits der Mauer soll Ostdeutschland weltweit die höchste Selbstmordrate haben, die Geburten seien um 60 Prozent zurückgegangen, der Alkoholkonsum habe sich verdoppelt, ein Drittel der Arbeitnehmer habe die Stelle verloren, die Hälfte der Frauen arbeite nicht mehr. Bei solchen Bilanzen bleibt der Autor jedoch primär ein ökonomischer Kopf, der sein psychologisches Defizit durch die bekannten Larmoyanzen von Hans- Joachim Maaz auszugleichen versucht.

Ansonsten hat Bastasin für die Unterschiede zwischen Ostlern und Westlern wenig übrig: „Das ganze stereophone Gejammer, das einem außenstehenden Beobachter Deutschlands in den Ohren dröhnt, ist nichts anderes als das eintönige Konzert des Pessimismus und der Knauserei mit Lebensenergie, das dieses Land wirklich vereint.“ Gewonnen habe hierzulande die alte tröstliche und höhnische Gewohnheit, sich selbst als Negativabzug der Unzulänglichkeiten und der Unterlegenheit der anderen zu definieren, „ein Klischee, das sich gut für die Welt der Gegenüberstellung, für die Welt der Mauer eignete“.

Die Substanz der kollektiven Identität sei arm geworden, seit der Feind von der historischen Bildfläche verschwunden ist. Nach dem xenophoben Inferno von Solingen erkennt der preisgekrönte Publizist, daß das deutsche Anderssein wie immer gut und schlecht sei, „reich an Geheimnissen, deren Zauber verdorben ist, arm an Verständnis außerhalb und ungelöst im Inneren, weil jeder Deutsche den Duft der Heimat einzuatmen und zugleich den Geschmack Deutschlands zu verachten scheint.“

Dennoch bleibt Deutschland Vorbild. Der Aufbau Europas münde in fast allen Nachbarländern in das deutsche Erfolgsmodell. Deshalb auch seine wohlmeinende Vermutung: „Europa wird deutsch sein, weil Deutschland das einzige Land ist, das wirklich ein Orientierungsmodell anzubieten hat.“ Es biete eine Gesellschaft mit den geringsten Ungleichheiten, mit den am wenigsten zu ersetzenden Kräften. Die Alternative eines europäischen Deutschland oder eines deutschen Europa sei also irreführend. In der Währungsunion sei die hiesige Kultur der Stabilität längst zur Wegmarke einer „erzieherischen Disziplin“ in Europa geworden.

Aber ist es nicht auch zu einer Marotte von auswärtigen Beobachtern der deutschen Verhältnisse geworden, den neuvereinigten europäischen Koloß der Verantwortungsskrupel und mangelnden Souveränität zu zeihen? Auch Carlo Bastasins Normalitätsbeschwörung schießt über das Ziel hinaus, wenn er Verständnis für Kohls Verhalten aufbringt, an der Trauerfeier von Solingen für die ausländischen Opfer nicht teilgenommen zu haben. Der langjährige Kanzler habe halt ein anderes, normales Deutschland im Hinterkopf gehabt.

Carlo Bastasin: „Deutschland von außen. Zur Lage einer Nation“. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, 336 Seiten, 36 DM