Nur ein fernes Beispiel

Was wissen wir vom Menschen? John Berger gibt in seiner „Geschichte eines Landarztes“ keine Diagnosen, sondern Beobachtungen aus der englischen Provinz  ■ Von Walter van Rossum

Anfang der 60er lebt der Maler John Berger in St. Briavels, Gloucestershire, einem der ärmsten Landstriche Englands. Dort lernt er den Landarzt John Eskell kennen, dessen Patient er wird. 1964 entschließt er sich, die „Geschichte eines Landarztes“ aufzuschreiben. Begleitet von dem Fotografen Jean Mohr, beobachtet er den Arzt, der im Buch John Sassal heißt, interviewt ihn und erkundet seine Umgebung. Bereits 1967, als das Buch mit Bergers Text und Mohrs Schwarzweißbildern unter dem – englischen – Titel „Ein glücklicher Mensch“ erschien, lag ein Mißverständnis nahe: Es könnte hier darum gehen, die wirre Moderne mit frommen Geschichten vom guten alten Landarzt zu trösten. Rosamunde Pilcher für Abiturienten sozusagen. Allein, die „Geschichte eines Landarztes“ ist nicht tröstlich, sein Glück rauh und heillos. Es ist ein Versuch über Ideal und Realität der Menschlichkeit. Doch Menschlichkeit ist keine Angelegenheit der Güte, sondern der Existenzweise.

Das zerquetschte Bein des Holzfällers, der abhanden gekommene Glaube des alten Vikars, die im Seitensprung Geschwängerte, das chronische Siechtum der Alten, die Grippen, die Geburten, der Tod – für all das ist John Sassal fast rund um die Uhr zuständig. Als junger Mann hat er die Medizin als Auftrittsgebiet eines kämpferischen Experten gewählt: einsames Ringen mit den Giften der Krankheit und den Kräften des Todes. Im Laufe der Zeit verändert sich seine Einstellung. Er entdeckt die Menschen. Sie vertrauen ihm, damit er ihre Zustände erfaßt: Eine unerklärliche Übelkeit hat sich ihrer bemächtigt, sie wissen nicht, ob und wie der Schmerz zu ihnen gehört.

Der Arzt entlarvt das Übel als Krankheit: ein Fremdkörper mit bestimmten Folgen und Ursachen. Aber er spürt auch die intimen Bande, die die Person und ihre Krankheit verbinden. Seine Patienten nähern sich ihm wie sonst niemandem, sie sprechen sich aus. Er ahnt die andere Geschichte ihrer Organe. Seine medizinische Ausrüstung ist bescheiden, er muß improvisieren und hat 2.000 Patienten zu versorgen. Er gilt dennoch als „guter Arzt“, vielleicht weil er über seine medizinischen Pflichten in eine andere Rolle hineinwächst: des „Archivars ihrer Geschichte“ – wie Berger Sassals Verhältnis zu den einfachen Menschen seiner Umgebung nennt.

Die Stellung als Landarzt ist also Voraussetzung für eine ganz bestimmte Kommunikation: „Der Zweck der (ärztlichen) Brüderlichkeit ist Erkennen“ – sagt Berger. Und in dieses lokale Abenteuer des Konkreten finden wir John Sassal leidenschaftlich verstrickt: Seine Patienten verstehen ihn als objektiven Zeugen ihrer Person, der lokalen Geschichte und ihres Lebens, und er versteht sich durch sie. Er verfügt über Bildung und einige Spezialkenntnisse – das macht seine besondere Stellung aus –, aber ihm ist klargeworden, daß die Welt und die verhuschte Kreatur namens Mensch nicht als Expertise zu lesen sind. Alles Wissen ist Experiment – doch so wird es nicht aufgeführt; es ist von grotesker Allgemeinheit – doch niemand ist nur der Fall eines Gesetzes. Damit beginnen die Probleme. Was wissen wir denn von einem einzelnen Menschen? Wir verstehen kaum die Frage.

Am Ende des Portraits von John Sassal steht auch keine Lösung, keine Diagnose, keine Begründung – nur Beschreibung. Die Einstellungen des Arztes, seine Selbstbeschreibungen, seine Arbeit, die Umstände der Praxis und die sozialen Implikationen seines Landkreises. Wir kennen leicht fünfzig Theorien über die Psyche, über Berufsbilder, über medizinisches Denken, über gesellschaftliche Verhältnisse im ganzen wie im Lokalen, über Geschlechterrollen und die Dekonstruktion von allem. Welche auch immer wir wählen – je mehr Berger von John Sassal erzählt, desto mehr ahnen wir, keine einzige wird uns je einen einzelnen Menschen zeigen können. Jedes Wissen hat seinen Klub. Das Verstehen eines John Sassal bewährt sich allein in der praktischen Kommunikation, wenn seine Patienten in ihm die „Kraft ihres Selbstbewußtseins“ entdecken, ohne es in Seminarséancen zu suchen.

Und Berger macht es wie Sassal. Er vertieft sich in den Arzt, seine Arbeit, seine Umstände, um einen Menschen zu verstehen, der Menschen versteht. Die Kunst seiner dichten Beschreibung besteht in einer Genauigkeit, die weder ableitet noch beweist. So gesehen geht es hier nicht um einen Landarzt in einer schon damals leicht antiquierten Situation. Das mögliche Verstehen kennt keine Ebene, auf der es abgefragt oder kontrolliert werden kann. Wie der Landarzt in seine Patienten, so ist Berger in Sassal und sind wir in Bergers Text verstrickt und bleiben unerlöst. Unauffällig entwickelt Berger dabei eine Theorie seines Sehens. Sassal ist ein Glücksfall. Das heißt nicht, daß er im landläufigen Sinn ein glückspraller Mensch war. Er war bloß leidenschaftlich – ein Mensch: auf der Suche nach dem Menschsein. Weder Bergers Text noch Jean Mohrs Fotos mystifizieren ihn. In der Tiefe der englischen Provinz, entrückt in den Tod, den er sich 1982 freiwillig gab, ist er nur ein fernes Beispiel. Seines. Seine Geschichte hinterläßt kostbare Fragen.

John Berger/Jean Mohr (Fotos): „Geschichte eines Landarztes“. Aus dem Englischen von Wolfgang Uter. Hanser Verlag, München 1998, 176 Seiten, 34 DM