Wissenschaftliches Staunen

Weltaneignung in Gedichten: Raoul Schrott reaktiviert das Erhabene  ■ Von
Thomas Kraft

Irakische Sandpisten, Unwetter auf Madagaskar, bei den Ruinen von Serabit al-Khadim im Sinai-Gebiet, alpine Pässe und walisische Roggenfelder – Raoul Schrotts literarische Topographien bebildern eine Sehnsucht, die nach archaischen Strukturen und Erfahrungen fahndet. Im wilden und farbigen Spiel der Elemente erfährt ein lyrisches Ich offenbar die griffigen Schnittflächen von Vorstellung und Wirklichkeit und damit eine leise Ahnung von dem, was in all dem Welträtselhaltigen Authentizität verheißen mag. Schrott verfügt über kindliches Staunen ebenso wie wissenschaftliches Interesse, seine Versuche der schrittweisen, gedichtweisen Weltaneignung entstehen aus der Überzeugung, poetisches Denken und menschliche Empirie in sinnstiftenden Mustern verbinden zu können. In diesem Akt der wechselseitigen Ergänzung und Erhellung von Sinnlichkeit und Vernunft spiegelt sich eine Weltsicht, die das eigene Selbst und das eigene Wissen relativiert. Wenn Schrott seinen jüngsten Gedichtband „Tropen“ mit „Über das Erhabene“ untertitelt, tut er dies mit Bedacht. Dieser Rückgriff auf eine Formulierung, die Friedrich Schiller in der Adaption Kantscher Ideen 1801 anläßlich einer Vorlesung über Ästhetik geprägt hat, bringt eine stilistische Kategorie ins Spiel, die während der Dominanz visueller und auditiver Poesie des 20. Jahrhunderts bislang eher wenig zur Geltung gekommen ist. Dahinter steht die (reaktivierte) Erkenntnis von der sprachlichen Unzulänglichkeit, der Naturphänomene über das Begriffliche habhaft zu werden, das eben auch nur vorläufig ist und die Differenzen letztlich nicht überwinden kann.

Schrott bemüht sich, wie schon in seinen früheren Publikationen, über den Rückgriff auf den Ursprung sprachlicher Vermittlung in vorchristlicher Zeit Wege zu finden, „um mit den Dingen und der ihnen zugrunde liegenden, elementaren Wirklichkeit zu Rande zu kommen“. Die Verbildlichung menschlicher Erfahrungen im Umgang mit den Naturerscheinungen, wie sie in Form von Schriftzeichen und Piktogrammen in Felsen und Scherben eingeritzt wurde, reflektiert für ihn das frühe Bemühen, „Chaos und Ordnung emblematisch greifbar“ werden zu lassen.

Der Band enthält knapp siebzig Gedichte, die in den letzten fünf Jahren entstanden und fein säuberlich datiert und verortet sind. Von jeweils einem Inventarium begrenzt, findet man einen Hauptteil mit fünf „Stücken“, die wiederum mehrere Gedichtzyklen umfassen. Was so streng geordnet scheint, zerfällt aber in völlig heterogene Texteinheiten. Dahinter steckt Methode. Die verschiedenen Ansatzpunkte repräsentieren Möglichkeiten, Perspektiven und Stimmhaltungen einzunehmen, die das komplexe Geflecht der Realität zu entwirren suchen.

In einer ganzen Reihe von Gedichten orientiert sich Schrott an naturwissenschaftlichen Experimenten und Erkenntnissen. Seine „physikalische Optik“ bemüht sich um die bildhaft analoge Aufschlüsselung von Lichtverhältnissen und Wetterlagen. Spiegelung und Dämmerung, Wellenschlag und Wasserwirbel sind immer schneller als die Hand, die schreibt. Und sie sind nie eindeutig: Regen oder die Brechung einer Fensterscheibe trüben den Blick, Konturen verschwimmen, Halluzinationen und Tarnungen forcieren das Maskenspiel der Poesie, das Schrott liebt und wie wenige beherrscht. Von Michelangelo zu Einstein, von Hesiod zu Galilei – allen leiht er seine Stimme und sein Auge. Was diese Wissenschaftler und Künstler entdeckt haben, wie sie aus der Anschauung gelernt und gedacht haben, ist für Schrott Anlaß, sich einzuschreiben in ihre Logik, ihre Kausalitäten, ihre Widersprüche, ihre Erkenntnisse, ihr Scheitern.

Die Metaphysik bleibt dabei ziemlich außen vor, die Dinge sind schön genug. Deswegen ist es aber noch kein poetischer Jostein Gaarder für Erwachsene, auch wenn manch einem Kritiker das Ganze zu konstruiert und durchdacht erscheinen könnte. Dagegen stehen Schrotts Enthusiasmus, der aus jeder Zeile spricht und sein geschmeidiger, rhythmischer Sprachduktus, der sich ein Augenzwinkern und manche Anspielung nicht verkneifen mag. Wobei, das muß bei aller Bewunderung ehrlicherweise gesagt werden, es schon Licht und Schatten gibt: Neben den herausragenden Gedichten, die in Madagaskar entstanden sind und dem Band den doppeldeutigen Namen gaben, wirken die Texte aus dem Zyklus „Gebirgsfront 1916-18“, bei aller Tragik des Geschehens, merkwürdig blaß.

Doch in der Summe gelingt, was Schrott in aller Bescheidenheit anstrebt: Seine Bilder geben uns eine Vorstellung von dem, was das Wesen der Natur ausmacht. Seine Poesie erregt gleichsam unsere Seelen, wie Goethe es einst forderte. Sie stärkt unsere Wahrnehmung und das Empfinden für Schönheit und Größe dadurch, daß Grenzen unseres Bewußtseins und Formen unserer Entfremdung von den existentiellen Dingen aufgezeigt werden. Berge, Bäume, Moose und Flechten, sie schweigen. Sie schweigen in ihrem Schein, den sie für uns haben. Raoul Schrott bringt die Dinge zum Sprechen. Mehr kann Poesie nicht leisten.

Raoul Schrott: „Tropen. Über das Erhabene“. Hanser Verlag, München 1998, 213 Seiten, 34 DM