Ball und Bombe – Nostra Aetate

Eine Geschichte aus Müll, Paranoia und Kunst: „Unterwelt“ – Don DeLillos grandioser Romanfilm über die 2. Hälfte des amerikanischen 20. Jahrhunderts. Liebe, Lust und Langeweile, Elend, Wohlstand und Tod im Zeitalter der totalen Untergangsdrohung  ■ Von Erhard Schütz

Er spricht wie du, mit amerikanischer Stimme“, beginnt der furiose Prolog, die Darstellung eines Baseballspiels in New York, am 3.Oktober 1951, Dodgers gegen Giants, eine „tour de force of cinematic writing“ (Luc Sante), etwas, das Film nie hinbekommen wird, ein Wirbel aus Zooms und Close-ups, Standbildern und langen Einstellungen, harten Schnitten und wirbelnden Überblendungen. 60 Seiten Achterbahn.

Überschrieben ist der Prolog mit „Der Triumph des Todes“. Das ist der Titel eines Gemäldes von Breughel, das in einer Reproduktion der Illustrierten Life J. Edgar Hoover vor die Füße flattert. Hoover, der sich freut, wenn Frank Sinatra, mit dem er beim Spiel ist, ihn Jedgar nennt, erfuhr gerade vertraulich, daß die Sowjetunion eine Atombombe gezündet hat. Breughels Bild beeindruckt ihn so sehr, daß er es fortan in jedweder Form sammelt. Nur das Original bekommt er nicht. Und als 1966 das dankbare spanische Volk es der amerikanischen Schutzmacht schenken soll, fallen leider vier Wasserstoffbomben auf die spanische Küste, als eine B 52 mit einem Tankflugzeug kollidiert. (Das ist dann schon auf Seite 674.) Das Spiel endet sensationell, denn Thomson von den Giants schlägt den entscheidenden Wurf von Branca (Dodgers) in die Zuschauerränge, ein „Homerun“ oder „Homer“, ein Schlag, der, so die Zeitungen in Verkennung der Reichweite von Baseball, „um die Welt geht“.

Den Ball erkämpft sich der fiktive farbige Schulschwänzer Cotter Martin. Und damit beginnt die nahezu unendliche Geschichte, die Don DeLillo, so ein apokrypher Kalauer, zum „Homer of the Homer“ macht.

Auf der Website http://haas.berkeley.edu/gardner/delillo.html findet man ziemlich alles, was man immer schon zu DeLillo wissen wollte. DeLillo ist kamerascheu. Und nicht zufällig lautete der Titel seines ersten Romans „America“, meint jedenfalls die Website. Nun, DeLillo ist – gleich nach Pynchon, auf dessen „Dixon & Mason“ in Deutsch wir leider noch warten müssen – längst auch bei uns ein derart offener Geheimtip, daß jeder, der zu den von Enzensberger auf 3.000 geschätzten leidenschaftlichen Lesern gehört, ihn kennen dürfte. Entweder „Weißes Rauschen“ oder „Sieben Sekunden“. Der kamerascheue Geheimtip ist ein Teil des internationalen Medienbetriebs. Über 300.000 Exemplare von „Underworld“ wurden in den USA verkauft, das Taschenbuch ist gerade erschienen. Die deutsche Startauflage beträgt 50.000. Die hiesigen Taschenbuchrechte sind ebenso geklärt wie längst die Filmrechte an Hollywood verkauft, obwohl jeder Film sich an diesem Roman nur wird blamieren können. Alles weitere auf der Website. Cotter Martin also erzählt seinem Vater Manx vom Ball. Der nimmt ihn sich und verkauft ihn für ein paar Dollar an Charlie Wainwright, dessen Beruf vor allem knallharte Werbesprüche und das Feuern von Angestellten ist. Der gibt ihn seinem Sohn Chuckie, der ihn 1969 zum Alarm-Flug in der B 52 mitnimmt, Lang Tall Sally, nach der 1992 dann Klara Sax ihr gigantisches Kunstprojekt in der Wüste Arizonas, die Übermalung von 230 ausgemusterten B-52-Bombern, benennen wird. Da ist der Ball von Chuckie längst an den Baseball- Maniac Marvin Lundy verkauft, von dem ihn schließlich Nick Shay, Manager einer Firma für Müllverarbeitung, für 37.000 Dollar gekauft hat.

Nick wiederum, der am Ende seinen Kollegen Brian Glassic im fernen Semipalatinsk verhauen wird, weil Nicks Frau Marian mit ihm fremdging, hatte, einen Tag nachdem er das Spiel 1951 am Radio gehört hatte, eher zufällig einen Fixer erschossen, was ihn in die Obhut von Pater Paulus brachte, der ihn die Bedeutung von Wut lehrte. Nick nun, längst Manager eines Unternehmens, das Atommüll verarbeitet, besucht Klara, zu der er, ehe sie als Abfall-Künstlerin bekannt wurde, damals in der Bronx ein kurzes, leidenschaftliches Verhältnis hatte. Da war sie noch die Ehefrau von Lehrer Bronzini, der wiederum Nicks Bruder Matt, später Mitarbeiter an einem A-Bomben-Projekt in New Mexico, im Schachspiel trainierte. Alles klar? Dabei ist dies nur ein kleiner Teil all der Figuren und Orte, die dem Leser auf dem Parcours von Zeitsprüngen durch die Jahre zwischen 1951 und der jüngsten Gegenwart begegnen.

Bronzini, inzwischen durch die Bronx flanierender Rentner: „Die Jahreszeiten liefen ineinander, die Jahre waren verblüffend verwischt. Wie die Zeit in Büchern. In Büchern vergeht die Zeit im Lauf eines Satzes viele Monate und Jahre. Schreib ein Wort, überspring ein Jahrzehnt.“ So verfährt der Roman, angestoßen durch eine harte Fügung, die DeLillo Bronzini Jahre später in der New York Times vom 4.10.1951 auffinden läßt: „Die Titelseite überraschte ihn. Zur Linken erringen die Giants die Meisterschaft, schlagen die Dodgers durch einen dramatischen Homerun im neunten Inning. Und zur Rechten, symmetrisch umbrochen, selbe Schriftart, selbe Schriftgröße, selbe Länge, zündet die UdSSR eine Atombombe – kawumm – Details bleiben geheim.“

Über ein halbes Jahrhundert Liebe, Lust und Langeweile, Elend und Wohlstand, Wut, Gewalt und Tod unter der Klammer der totalen Untergangsdrohung. „Die Pilzwolke war die Gottheit der Vernichtung und Zerstörung.“ Schwester Edgar, die ihre Schüler in Alarmübungen unter die Tische kriechen läßt und ihr Zimmer mit Alufolie ausschlägt, sie markiert nur eine der Deformationen des Alltags, die durch die Drohung der Bombe zu den je schon vorhandenen hinzutritt. Die „Widersprüche des Daseins“, die „verstümmelte Sehnsucht“, die innere Zerrissenheit von Menschen und Systemen und „wie die Kräfte aufeinanderprallen und sich ineinander verhaken“, das zeigt Sergej Eisensteins Film „Unterwelt“ für Klara Sax, als sie ihn, verloren geglaubt, 1974 in einer restaurierten Fassung in New York sieht. Damit liefert DeLillo eine direkte Begründung seines Titels.

Aber dazu, zur Kunst, kommt noch eine andere: „Müll ist der teuflische Zwilling. Denn Müll ist die Geheime Geschichte, die Untergeschichte [...].“ Das Inferno, das in Form der Bombe gebannt scheint, existiert weiter: „Was wir ausscheiden, fällt auf uns zurück, um uns zu zerstören.“ Das reicht von Rotz und Samen über (getrennt gesammelten) Hausmüll zum atomic waste. Am Ende wohnt Nick dem Versuch bei, verseuchten Atommüll durch Atomexplosionen zu zerstören.

So bewegt der Roman sich unentwegt zwischen den beiden Polen des päpstlichen „Nostra Aetate“ und Ismaels nostalgischem „Zu meiner Zeit...“ Und nach dem schier unaufhörlichen Vor- und Rücklauf durch die Geschichte der letzten Jahrhunderthälfte, durch Kunst und Müll, durch Spiele, Politik und Medien, mal pathetisch plakativ wie Werbetafeln, mal still, untergründig nuanciert, die Menschen durch ein paar Sätze in ihrer Sprache zu Wort und lebendiger Kontur kommen lassend, nach diesen unendlichen Americana, erscheint am Ende die sarkastische Pointe zu all der angestrengten Arbeit, Geschichte und Untergeschichte erinnernd herzustellen: Nick bekommt in Semipalatinsk die Siedlung gezeigt, an denen die Russen ihre Bomben testeten, ein originalgetreues Museum des amerikanischen Alltags von damals: „Ikonen des alten Lebens, Ipana und Oxydol und Chase & Sanborn, immer noch intakt.“

DeLillos „Unterwelt“ ist der historische Roman über die zweite Hälfte des amerikanischen Jahrhunderts: „In unserer Zeit.“ Tocqueville hatte 1840 bemerkt, daß die Geschichtsschreiber demokratischer Zeiten dazu tendieren müßten, „jedem Geschehen eine bedeutende Ursache zuzuschreiben“ und „die Ereignisse miteinander zu verflechten und ein System daraus zu bilden“. Das ist der Ansatz zur Paranoia, die Pynchon so gut wie DeLillo beschäftigt hat.

Wie literarisch diese Geschichte schreiben, ohne selbst der Paranoia zu verfallen? Wie, wenn der Kern einer A-Bombe just so groß ist wie ein Baseball, Nicks Tick entgehen, der in allem die Zahl Dreizehn findet? Wie eine ungeheure Masse an Details, Namen, Marken, Dingen, Ereignissen, Nachrichten, Tonlagen, Slangs, die Vielzahl der fremden in der englischen Sprache, Italienisch, Jiddisch oder Spanisch, Moden und Trends, Verhaltensweisen und Gefühle organisieren, ohne sie in den Leitmotiven (oder eher: -fossilien) wie zum Beispiel Baseball, Orangensaft und Kondome, in den Begegnungen, Gedanken und Gefühlen der Figuren, in Obsessionen und Paranoia enden zu lassen? Ist der Text selbst eine Form perfekter Verschwörung? Oder auch nur eine endlose Rückkoppelungsschleife aus Realität und Medium, wie in der Episode vom videogefilmten Texas Highway Killer oder der Radioübertragung vom legendären Studentenprotest gegen Dow Chemical in Madison, Wisconsin?

Lege Angelhaken in einen Topf und schüttle ihn. Dann nimm sie heraus. Alles hängt zusammen.“ So hat Heinz von Foerster die „wunderbare Selbstorganisation“ illustriert. Der Paranoiker sähe dann in der Verwirrung der Haken eine (gegen ihn gerichtete) Ordnung. Der Künstler aber nimmt sie geduldig auseinander und verhakt sie wieder so, daß ein Muster entsteht, das wie Unordnung aussieht. Doch die Arbeit geht weiter: „Der Bulldoggenbulle J. Edgar Hoover, der verdorbene Heilige des Gesetzes, endlich im Hyperlink mit Schwester Edgar vereinigt – nunmehr ein einziger, fluktuierender Impuls, ein Stück kodierte Information. Am Ende ist alles verknüpft.“

Am Ende, als letztes Wort, rührend, steht „Frieden“, womit die Identität von Realität, Wunsch und Schreibakt erscheint. Trügerisch freilich, denn das alles geschieht im Netz der neuerlichen Verknüpfung von allem mit allem – Geschichte aus Paranoia, Müll und Kunst.

Don DeLillo: „Unterwelt“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heribert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 966 Seiten, 54 DM