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Mit Woody an die Wallstreet

Billy Bragg, der unbekanntes Material aus dem Nachlaß des Folk-Idols Woody Guthrie aufnahm, über post-ideologische Zeiten, Tony Blair und Kapitalismus  ■ Von Gunnar Lützow

In bestimmten Fragen waren die 80er Jahre angenehm übersichtlich. Auf der einen Seite der Westen, auf der anderen der Osten, dazwischen der Eiserne Vorhang. Wem es im Westen nicht gefiel, dem wurde empfohlen, doch nach drüben zu gehen. Und einer tat es dann auch, zumindest auf Besuch im damaligen Leningrad oder beim „Festival des politischen Liedes“: Billy Bragg, Protestsänger zwischen Folk und Punk und verdienter Kulturaktivist der kämpfenden Kohlekumpel von 1984. Obendrein profilierte sich damals „das soziale Gewissen der Rockmusik“ als erbitterter Gegner von Margaret Thatcher und feierte gleichzeitig immer wieder Chartserfolge. Bis sich dann eines Tages mit der Weltlage auch die Einstellung des Arbeitersohnes aus dem tristen Londoner Vorort Barking änderte.

Aber nun, so scheint es, haben ihn seine Wurzeln wieder: Gemeinsam mit den Roots-Rockern von Wilco hat er auf dem Album Mermaid Avenue 15 unveröffentlichte Songs aus dem Nachlaß des amerikanischen Folk-Idols Woody Guthrie eingespielt. „Ich kam erstmalig mit Woody Guthries Songs in Berührung, als ich noch zur Schule ging“, erzählt Bragg. „Damals war ich ein großer Fan von Dylan und las in einer Biographie, wie er von Woody inspiriert wurde. Als ich mir dann eine Kassette mit seiner Musik gekauft hatte, war sie mir einfach zu roh.“ Doch viel scheint die beiden nicht zu trennen. Unlängst gratulierten Bragg während einer Solo-Tour Zuschauer zu seinen neuesten Songs – die allesamt von Guthrie waren.

Darüber hinaus liegt mehr in der Luft: „Als wir letztes Jahr mit der Arbeit an diesem Projekt begannen, stellten wir fest, daß sich viele Bands wieder auf die Wurzeln der amerikanischen Musik berufen. Außerdem ist Woody Guthrie zu Ehren dieser Tage sogar eine Briefmarke erschienen. Viele seiner Erfahrungen lassen sich in den USA von Bill Clinton wiederfinden: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, und der Schutz der Arbeiter vor Ausbeutung wird immer weiter abgebaut. So funktioniert Kapitalismus.“

Auch von der Regierung Blair hält das ehemalige Labour-Mitglied nicht viel: „Hoffnung habe ich nur, was Nordirland betrifft. Was den Rest angeht, muß ich sagen, daß sich die Regierung keine Gedanken um die Umverteilung von Vermögen von oben nach unten macht. Darum aber geht es.“ Schwenkt der inzwischen 41jährige also immer noch die rote Fahne? „Wir leben in einer post-ideologischen Welt – was jedem mit dem Fall der Mauer klargeworden sein sollte. Wenn man heute über Sozialismus redet, dann muß das ein Sozialismus des Herzens sein, der Dinge wie Mitleid und die Sorge füreinander beinhaltet.“

Dennoch findet sich auf Mermaid Avenue neben Balladen und Seemannsschicksalen zum Mitsingen natürlich auch noch die mit reichlich Country-Schmalz angereicherte Agit-Nummer vom „Unwelcome Guest“, der natürlich nur die Reichen beklaut, da sie ihr Vermögen ja im Prinzip selber zusammengestohlen haben. Und trotz der „post-ideologischen“ Zeit, in der sogar ein Billy Bragg dem Wallstreet Journal Interviews gewährt, hat die Geschichte natürlich nur eine kleine Verschnaufpause eingelegt: „Der kalte Krieg ist zwar vorbei, aber was ist für den Kapitalismus gefährlicher? Die ehemalige Sowjetunion oder die Tatsache, daß alle Börsen jetzt elektronisch miteinander verbunden sind? Wenn es eines Tages kriselt, dann bricht alles wie ein Kartenhaus zusammen.“

mit Hefner: Di, 13. Oktober, 21 Uhr, Große Freiheit

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