Turm und U-Bahn-Station blieben

■ Vor 100 Jahren siedelten die Borsigwerke nach Reinickendorf um. Rund um das Lokomotivenwerk entstand ein Viertel für die Arbeiterfamilien

Wenn die Tonbandstimme in der U 6 die Haltestelle „Borsigwerke“ ankündigt, klingt das für die Fahrgäste so normal wie „Friedrichstraße“. Niemand denkt mehr darüber nach, daß hier einst die Arbeiter einer Firma mit Weltruf aus der Tram stiegen. Heute klingt Borsig in Berliner Ohren eher wie ein Ortsteil. In der Tat, hätte die Familie Borsig vor 100 Jahren nicht ihr Hauptwerk ins heutige Reinickendorf verlegt, der Bezirk sähe vermutlich anders aus.

Schon 1837 hatte August Borsig in der Chausseestraße in Mitte die Firma gegründet, die mit dem Bau von Lokomotiven schnell weltbekannt wurde. Nach knapp 50 Jahren war jedoch auch das Nachfolgewerk in Moabit veraltet, so daß sich Ernst und Conrad von Borsig, die Enkel des Firmengründers, 1894 nach einer Alternative umsah. Am Tegeler See wurden sie fündig: Das 230.000 Quadratmeter große Grundstück ließ sich über den Wasserweg und mit der Bahn erreichen und die Einrichtung der alten Betriebe leicht dorthin transportieren. Vollkommen zufrieden waren die Borsig-Brüder allerdings erst, als die Pferdebahn Berlin–Tegel durch eine elektrische Bahn ersetzt und der Tegeler Hafen gebaut war. Der Umzug des Werks dauerte bis 1898. Der Werkseingang mit den Figuren „Schmied“ und „Gießer“ wurde zum Wahrzeichen Reinickendorfs.

Für die Arbeiter hatte sich mit der Verlagerung der Weg zur Arbeit allerdings erheblich verlängert. Zu der Arbeitszeit von täglich elf Stunden kam jetzt noch der Fußmarsch von Wedding oder Moabit. Denn die Tram war zu teuer. Diese Belastung war jedoch auch nicht im Sinne der Werksleitung. In unmittelbarer Nähe zur Firma entstand daher das Wohnviertel Borsigwalde.

Schon 1900 wohnten dort mehr als 2.000 Menschen. Die Wohnungen waren von sehr unterschiedlichem Komfort. Manche Häuser hatten nur eine Gemeinschaftstoilette im Keller. Arbeiterfamilien mußten teilweise mit fünf Kindern in einer Einzimmerwohnung leben. Gehobene Angestellte konnten Vierzimmerwohnungen mit Badezimmer mieten. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein großer Teil der Häuser zerstört, nach 1945 aber wiederaufgebaut. Heute befindet sich der Stadtteil in einer Übergangsphase. Viele Fabriken haben nach der Wende ihre Produktion eingestellt, die Ansiedlung von Dienstleistern beginnt erst.

Mit dem Lokomotiven-, Dampfkessel- und Maschinenbau war Borsig bis in die zwanziger Jahre erfolgreich. Sichtbares Zeichen der Prosperität war der Borsigturm. 1924 wurde der 65 Meter hohe, zwölfgeschossige Büroturm für die Hauptverwaltung fertig. Noch immer ist der Turm ein Zeichen des Erfolgs. Inzwischen allerdings ist der Bürokonzern Herlitz eingezogen, der auch das neue Geschäftszentrum auf dem Borsig- Gelände errichtet hat.

Die Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre zog Borsig jedoch in ihren Strudel: 1931 mußte die Firma Konkurs anmelden. 1933 übernahm die Düsseldorfer Rheinmetall das Werk. In den Borsig-Hallen wurde jetzt für die Rüstung produziert. Während des Zweiten Weltkrieges beschäftigte Rheinmetall auch Zwangsarbeiter: Laut Firmensprecher Gerhard Schultz waren es rund 20.000. Die Rheinmetall zahlte 2,5 Millionen Mark Entschädigung. Die Firma prüfe zur Zeit, ob es noch berechtigte Ansprüche von Zwangsarbeitern gebe, sagte Schultz.

Nach dem Krieg ging es in dem zerstörten und demontierten Werk langsam wieder aufwärts. 1970 übernahm die Oberhausener Deutsche Babcock-Wilcox das Borsig-Werk. Babcock-Borsig heißt die Firma mit 700 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 170 Millionen Mark seither. Der Name der U-Bahn-Station ist jedoch geblieben. Jutta Wagemann

Eine Ausstellung über Borsig in Tegel ist von heute an bis zum 11. November im Rathaus Reinickendorf zu sehen. Zum Jubiläum gibt es auch ein Buch: Ulrike Wahlich: „Die Borsig-Werke in Tegel“. Jaron Verlag Berlin, 24,80 Mark.