Gekommen, um Lust zu spenden

Johann Kresnik inszeniert den Mexikanern ihr nationales Tauma. Entflammt für Land und Leute, erzählt er anhand der Malinche-Figur von der zweiten Conquista. Ein Bericht von spektakulären Proben  ■ Von Anne Huffschmid

Adler sind teure Tiere, nicht vorgesehen im Budget. So schickt man einen Zwerg auf die Bühne, der eine Schlange um den Hals gewickelt hat, mit den Armen wedelt und abwechselnd „Soy un aguila, I am an eagle“ ausrufen wird. Spätestens bei dieser Szene dürften patriotische Mexikaner, denen an ihrem stolzen Wappen mit Adler und Schlange gelegen ist, empört den Saal verlassen.

Ob sie so recht wußten, was sie taten, die Herren vom staatlichen Kulturinstitut der Schönen Künste, als sie sich vor ein paar Monaten mit Hilfe des Goethe-Instituts ausgerechnet Johann Kresnik ins Land holten, um mexikanische Geschichte zu inszenieren, who knows. Denn der österreichische Maestro aus Deutschland liebt es bekanntlich weder national noch naturalistisch. „Er ist ein Irrer“, sagt Victor Hugo Rascón Banda, einer der führenden Dramatiker des Landes, der das Textmaterial zu Kresniks Spektakel lieferte. Und es klingt ziemlich bewundernd.

La Malinche: eine mexikanische Eva

Schon der Plot hat es in sich: Es geht um das Gründungstrauma der Nation, die Eroberung Mexikos. Oder wie der Spanier Hernan Cortés mit 506 schlecht ernährten Männern und 90 Pferden binnen kürzester Zeit in unbekanntem Gelände ein 100.000köpfiges Volk besiegen konnte. Diesen Coup hat er vor allem einer Frau zu verdanken: Malintzin, einer jungen Adligen aus einem mit den Azteken verfeindeten Volk, die den Spaniern 1519 als Tributzahlung übergeben wurde und schnell zur Exklusivübersetzerin des Eroberers aufstieg. Als Beraterin und Geliebte des neuen Arbeitgebers dolmetschte sie zwischen den beiden starken, aber wenig sprachbegabten Männern, Hernán Cortés und dem Aztekenkönig Montezuma, bis letzterer schließlich unterlag und 1521 mit der Niederlage des letzten Kriegers Cuauhtémoc die Conquista besiegelt wurde.

Seitdem gilt Malintzin, die fortan als La Malinche ins Mythenrepertoire des Landes eingehen sollte, als Hochverräterin ihres Volkes. Die „mexikanische Eva“, weil so verführerisch wie verräterisch, werde immer dann beschworen, wenn es um die Früchte von „diesem seltsamen Baum der nationalen Identität“ gehe, wie der Anthropologe Roger Bartra schreibt. Als la chingada, die Vergewaltigte, so wiederum Octavio Paz, ist sie die ewig vergewaltigte Urmutter der mestizaje, der Rassenmischung. Als la lengua, die Übersetzerzunge, steht sie für all das, was den Mexikanern am Weib wohl bis dato nicht ganz geheuer ist: Klugheit, Berechnung und strategisches Denken – vorstellbar offensichtlich nur als Verrat an Blut und Boden. Als Malinchismus wird heute jener paradoxe Minderwertigkeitskomplex der ansonsten hypernationalistischen Mexikaner bezeichnet, die eigene Kultur ab- und alles, was von außen kommt, entsprechend aufzuwerten – ablesbar am Run auf Importwaren, ausländische Eliteuniversitäten und TV-Trash aus den USA.

Entsprechend dient La Malinche Kresnik und Rascón Banda vor allem als Anlaß, eine moderne Geschichte zu erzählen: die der zweiten Conquista des Landes, die Durchdringung Mexikos durch Gringokultur und Kapitalismus. Keine militärische Eroberung mehr, sondern der wirtschaftliche Ausverkauf. Und auch diesmal sind es wieder die Mexikaner selbst, in Gestalt der politischen Eliten, die sich – wie einst jene Völker aus der Nachbarschaft, die sich mit den Spaniern verbündeten, um sich gegen die aztekische Knechtschaft zu wehren – dem Ausland ans Messer liefern.

So leitet Malinche, mal als Fernsehreporterin, mal als Patientin auf der Couch beim Psychoanalytiker, durch die knapp dreißig Bilder der Szenerie. Da tummeln sich dann nicht mehr Spanier mit Schwertern, sondern Gringos mit Aktenköfferchen, Touristen und Indio- Guerilleros. Und neben Cuauhtémoc und Montezuma sind auch Subcomandante Marcos und der Präsident, Hausfrauen und Heiligenfiguren mit von der Partie.

Unterlegt ist alles mit einer rasanten Collage aus melancholischen Mariachi-Balladen und Militärmärschen, prähispanischen Gesängen und Maschinengewehrrattern. Was im Stück mitunter recht plakativ daherkommt, wird auf der Bühne überraschend präzise. Gar nicht der zwanghafte Bilderstürmer, als der Kresnik dem deutschen Feuilleton schon lange gilt. Eher ein Bildermacher, der intuitiv zu begreifen scheint, was den Kern des mexikanischen Traumas ausmacht.

Die Identitätsfrage als nationale Obsession

Eingeschlossen in eine Glasvitrine wird beispielsweise La Malinche auf die Bühne gerollt, um ihren nackten Körpfer ringeln sich ein paar Dutzend Wasserschlangen. Ein junger Mann im grauen Anzug, mit Handy, Sonnenbrille und langem schwarzem Haar, läuft eilig an ihr vorbei. Es ist Martin, der einzige Sohn von Malinche und Cortés. „Psst!“ zischt sie aus ihrem Kasten heraus, und unwillig nähert sich der Jungmanager mit den indianischen Zügen der seltsamen Gestalt. Ein irrwitziger Dialog entspannt sich zwischen der verglasten Mutter und dem verlorenen Sohn, der von Herkunft und Eroberung nichts wissen will.

Die Frage nach Wurzeln und Identität ist für die Mexikaner „genau so eine Obsession wie die ewigen Schuldgefühle der Deutschen“, sagt die Mexikanerin Liliana Saldaña, die seit fünf Jahren an der Berliner Volksbühne unter Vertrag steht und nun für das Malinche-Spektakel ein paar Monate lang zu Gast in der Heimat ist.

Alles ist Körper bei Kresnik – Begehren, Zerstörung und Hingabe. Schlangengleich bewegen sich die vervielfältigten Malinches wie in Zeitlupe bis zum vorderen Bühnenrand. „Lauter schöne, merkwürdige Frauen kommen da herunter“, lautet die Regieanweisung. Aber eben keine Huren, „not this“, sagt Kresnik und wackelt mit dem Hintern. Später holt die Haupt-Malinche ein Strumpfknäuel – ab der Premiere wird es ein riesiger Dildo sein – aus Cortés' Hose und streichelt es zärtlich. „Ich bin gekommen, um Lust zu spenden meiner blühenden Vulva, meinem kleinen Mund“, rezitiert sie, laut Rascón Banda eines der raren Fundstücke prähispanischer Pornographie. Alle sollen „zum Penis sprechen“, Arme und Münder liebkosen den Strumpf.

Schon vor drei Jahren hatte Johann Kresnik mit einem Gastspiel seiner „Frida Kahlo“ die heimische Theaterszene in Aufregung versetzt. Und da ist er offenbar auf den Geschmack gekommen: Für die Einladung hat er seinen Urlaub geopfert und sich – ohne ein Wort Spanisch zu sprechen – voller Wonne in den Moloch gestürzt. Ausflüge zu Leichenhallen und Obdachlosenasylen, zum Parlament und zu psychiatrischen Anstalten standen auf dem Rechercheprogramm, Streifzüge über Friedhöfe und Müllhalden. „Süchtig“ ist er inzwischen nach der Plaza Garibaldi, dem nächtlichen Treffpunkt der Mariachi-Musiker, die in ihren strammen, schwarzen Anzügen mit der silberbeschlagenen Naht am Hosenbein ihre sehnsüchtigen Balladen anpreisen.

Proben ohne Wasser, Strom und Telefon...

Tagsüber geht es weniger romantisch zu. Das Theater Giménez Rueda, Schauplatz der deutsch- mexikanischen Koproduktion, liegt im Erdgeschoß eines verspiegelten Hochhauses, nur wenige Meter vom wohl häßlichsten Bau der ganzen Stadt entfernt: dem Monument der Revolution, ein wuchtiger Steinbogen, sozialistischer Realismus à la mexicana. Auch sonst gelten mexikanische Spielregeln – Wasserknappheit, Stromausfälle, gekappte Telefonleitungen und die überall lauernde Kriminalität. Nach alldem, so Kresnik, fühle er sich selbst als „winzigkleiner Mexikaner“. Tatsächlich entspricht der drahtige Endfünfziger kaum dem Bild, das man sich vom feinsinnigen Kulturschaffenden aus Alemania gemacht haben mag. Was die Mexikaner besonders an ihm mögen, ist, daß er genauso sentimental ist wie sie. Und genauso unberechenbar. Eines Mittags fangen, mitten im Probenbetrieb, plötzlich die Mariachis zu spielen an. Kresnik hat die Musiker am Vorabend angeheuert. Ein paar Kästen Bier werden angeschleppt, die Proben für beendet erklärt, und der Meister hält eine flammende Rede über „den Kampf gegen den Kapitalismus“. Und dann müssen alle zum Tanz auf die Bühne.

...dafür mit Feuer, Schlangen und Dildos

Aber Kresnik ist natürlich auch eine Zumutung. Bis jetzt ist keiner abgesprungen, alle lassen sich – und wie! – vom Maestro führen und verführen. Und das, obwohl er ihnen einiges abverlangt: Feuer, Schlangen und Dildos, Exkremente und jede Menge nackte Haut. Grenzen setzt nur die Hygiene. Beim Troubleshooting im Foyer, wenige Tage vor der Vorabpremiere am heutigen Donnerstag, werden erste Klagen laut. Das Wasserbecken, in dem zudem ein paar lebendige Fische schwimmen, stinkt schon nach wenigen Stunden gottserbärmlich, alle haben Angst vor Ohrenentzündungen, Pilzen oder Cholera. Doch Plastikfische kommen nicht in Frage, Kresnik vereinbart statt dessen eine kollektive Impfung.

Brisanter noch als die technischen Handicaps gestaltet sich der Umgang mit den Empfindlichkeiten der Gastgeber. Zwar will Kresnik „um Gottes willen keine Deformierung der Mexikaner“. Aber eben auch keine Rücksichtnahme, denn „wegen der Rücksichtslosigkeit meiner Bilder hat man mich ja geholt“. An gewisse Tabus aber wird auch er sich halten müssen. So ist der Einsatz der Nationalfahne zu Werbe- oder Kunstzwecken in Mexiko verboten, nicht minder tabu sind die Jungfrau der Guadalupe, die Armee und el presidente.

Ansonsten aber kennt Kresnik keine Gnade: Schon im ersten Bild werden mexikanische Abgeordnete vorgeführt, die entweder vor sich hin dösen oder sich prügeln, und der gefangene Aztekenkönig Montezuma rockt als Elvis über die Bühne. Dem Kulturestablishment wird kühl um die Füße. Man wisse ja, so hatten sich Funktionäre vor kurzem an den Dramaturgen gewandt, daß dieser Kresnik im Grunde ein „Theaterterrorist“ sei. So solle er, Rascón Banda, doch bitte dafür sorgen, „die Bombe zu entschärfen“. Nichts da, lacht dieser, das sei eben modernes politisches Theater.

„Wir werden moralische und mentale Gewalt provozieren“, glaubt Rascón Banda. Und das wäre auch der Sinn der Sache – und doch ein Mißverständnis. Denn Kresnik kann auch anders, zart zum Beispiel: Im stummen Schlußbild legt sich eine junge Indianerin zum Sterben in das Wasserbecken, das voller schwimmender Kerzen ist. „Viel zu kitschig“, so Liliana, habe Kresnik bei den Proben noch geschimpft. „Aber toll!“ hatte sie ihm Mut gemacht. „Toll sind Weiberärsche“, soll er darauf geantwortet haben. Und habe dann doch irgendwie „ganz glücklich“ ausgesehen.