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Rollen, die es gibt

Kein Abarbeiten an Passionen, sondern Arbeit als Passion. Über Michael Winterbottom, den Regisseur von „I Want You“ und „Welcome to Sarajevo“  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Falls der Vollmond einmal Stromausfall haben sollte, könnte Michael Winterbottom zur Not einspringen: Sein rundes, strahlendes Gesicht wäre als Beleuchtung für „Peterchens Mondfahrt“ allemal gut genug. Ursprünglich hatte er, wie es sich gehört, englische Literatur studiert, und wenn er nicht mit 23 Jahren „einen Job“ (wie es in den biographischen Angaben heißt) als Cutter in einer Fernsehproduktion erwischt hätte, wäre er Lehrer geworden.

Jetzt sitzt er im obersten Zimmer eines Büros in einer winzigen Gasse namens Little Turnstile – hundert Meter weiter brummen die Busse auf High Holborn – und empfängt, nacheinander und mit entwaffnender Geistesgegenwart, seine Besucher, die sich auf der Wendeltreppe des alten Hauses stapeln. Man hat die klapprigen Fenster zum Atrium hochgeschoben, und die Zugluft bringt Baulärm herein.

Zusammen mit dem Produzenten Andrew Eaton betreibt Michael Winterbottom von hier aus die Firma Revolution Films. Was auch immer an Stoff herbeiweht, Winterbottom ist der Regisseur. Gerade läuft „I Want You“ – der Film ist seinem Titel weit überlegen –, die vierte Kinoproduktion, in deutschen Kinos. Michael Winterbottom, 37 Jahre alt, gehört zu den größeren und wichtigeren Adressen des neueren europäischen Kinos.

Sein Debüt vor vier Jahren, „Butterfly Kiss“, war schon etwas wunderlich: eine rauhe, flirrende Erzählung über zwei junge Frauen, deren mühsam unterdrückter Sadomasochismus sie in autobahnreisende Gelegenheitskiller verwandelt. Hätte man den Film unter einem weiblichen Regiepseudonym auf ein Lesbenfilmfestival verfrachtet, wäre ihm ein durchschlagender Erfolg sicher gewesen. Denn Winterbottom blieb dicht, und ohne Relativierung, an dem verbrecherischen Paar und deren Pakt. Schön war das nicht, aber der heisere Nihilismus der bis zum Erbrechen gepiercten Amanda Plummer war eine bis dahin ungesehene Charakterstudie des Mainstreamkinos.

Es gibt in England, noch oder wieder, eine veritable Beziehung von Theater und Film, was im günstigen Fall dazu führt, daß die üppige Landschaft cinematographischer Locations mit extrem intensiven, aber karg präsentierten Figuren gefüllt wird. Das gilt vor allem für Winterbottoms Verfilmung von Thomas Hardys Roman „Jude the Obscure“ (deutsch: „Herzen in Aufruhr“), der frühe Fragen der Individualisierung – Bildung oder Familie, Leidenschaft oder Kompromiß – mit einer Fin-de-siècle- Katastrophenvision beantwortet. In „Jude“ kann man sehen, wie Winterbottom die ganz großen Schwenks, die Fahrten und die Massenszenen meistert und doch an den Augen und Lippen seiner Protagonisten hängt: Christopher Eccleston und Kate Winslet als Urbilder einer akademischen Boheme, für die es schon die Rollen gibt, aber keinen Platz in der Gesellschaft.

Wenn man aus dem Video von „Jude“ die Farbe herausdreht, ahnt man, daß Winterbottom nicht nur die Literatur studiert hat. Sein Regiedebüt bestand aus zwei Features über Ingmar Bergman, dessen Frühwerk er im schwedischen Filminstitut akribisch erforschte. Obwohl Bergmans Entschiedenheit, die metaphysische Schmerzgrenze zu berühren, in Winterbottoms Kino nachhallt, erkannte der junge Engländer vor allem die Chancen einer selbstbestimmten Produktion.

Was Winterbottom mit dem europäischen Kino der Autoren nicht teilt, ist die werkumspannende stilistische Entschiedenheit, wie sie etwa Rohmer, Kaurismäki und Almodovar auszeichnet und trennt. Nicht daß Winterbottoms Filme keinen Stil hätten, aber sie teilen nicht den fetischistischen Impuls. Es sind brillant konjugierte Dramen mit sehr unterschiedlichen Dialekten; der Kameramann wird jedesmal ausgetauscht, der Schnittmeister bleibt: Trevor Waite.

So war Winterbottoms mutiger dritter Film „Welcome to Sarajevo“, gleich nach Kriegsende dort gedreht, geprägt von der Hektik und dem Leerlauf der Kriegsberichterstatter, die gefangen sind zwischen Moral und Ehrgeiz; die Filmerzählung sehr geschickt gespickt mit Rückgriffen auf authentisches News-Material.

Die hektischen Fahrten, die Massaker, die Beerdigung, der mafiose Abgrund und der atemberaubende Sprung in die Idylle einer englischen Familie, gesehen mit den Augen eines bosnischen Kindes – Winterbottom wagt sich an die ganz großen Themen. Aber er anekdotisiert nicht die Geschichte, wie Spielberg, sondern eignet sie sich über seine Figuren an. Die Drehbücher sind nicht von ihm, was vielleicht das Ausbleiben von Wiederholungen und Lieblingsthemen erklärt.

Sein jüngster Film „I Want You“, nach einem Drehbuch des irischen Schriftstellers Eoin McNamee, ist Winterbottoms dichtester Film, von enormer dramatischer Kraft. Im Zentrum steht ein bosnischer Waisenjunge, Honda, der das Sprechen aufgegeben hat und sich als akustischer Voyeur die Kleinstadtszene der Twens zu eigen macht. Sehr bewegend, wie dabei die Geschichten zweier Frauen miteinander vermessen werden, die beide auf ihre Weise nicht mehr lieben können: Hondas promiske Schwester und Hondas Schwarm, die Friseurin Helen, für die der Sexakt unlösbar verbunden ist mit dem gewaltsamen Tod ihres Vaters. Getaucht in die artifiziellen Farben des Kieslowski-Kameramanns Slawomir Idziak, elektrifiziert vom düster (g)rollenden Independentsound der Gruppe Rare, erscheint Cool Britannia als kleine Hölle an der See mit einem Überschuß gestischer, architektonischer und klanglicher Metaphern.

Seine besondere Neigung zu düsteren Themen steht in leuchtendem Kontrast zu seinem Charakter und seiner gänzlich pragmatischen Argumentation. Er denkt in dramaturgischen Kategorien: Handwerk, Hintergrund, Geld, Intuition. Es ist leicht einzusehen, warum am Set die Energien verschmelzen. Er arbeitet sich nicht an Passionen ab, sondern diese Arbeit ist seine Passion. Weder ist Michael Winterbottom glamourös, noch ist er ein Biedermann. Er ist ein origineller Regisseur mit Witz und Charme, von dem viel zu erwarten ist, nur keine Komödien. Nicht wirklich.

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