Löcher im Fischteich

Vor 20 Jahren wurde in Deutschland die Medienzukunft eingeläutet. Mit ihr sollte Fernsehen von allen für alle möglich werden: die Offenen Kanäle. Was ist daraus geworden?  ■ Von Tilmann P. Gangloff

Als der Sozialtheoretiker Oskar Negt und der Medientheoretiker Alexander Kluge vor zwanzig Jahren in ihrem Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ ihre Forderungen nach einer proletarischen Öffentlichkeit formulierten, war Deutschlands Rundfunkwelt noch überschaubar. Es gab ARD, ZDF und die Dritten Programme. Wer Glück hatte, empfing noch das „Dritte“ des Nachbarbundeslands. Damit hatte sich's dann aber auch.

Dann schufen die Ministerpräsidenten, ebenfalls 1978, die Voraussetzungen für den medienpolitischen Urknall in Deutschland: Sie beschlossen die Gründung der Kabelpilotprojekte in Dortmund, Ludwigshafen, Berlin und München; der flächendeckenden Verkabelung und TV-Verbreitung via Satellit folgte die Kommerzialisierung des Fernsehens.

Längst nur noch Nische, wenn überhaupt, ist mittlerweile eine Form von Rundfunk, die den damaligen Debatten zufolge eine wichtige Säule der Entwicklung werden sollte: die sogenannten Offenen Kanäle – Fernsehen (und Radio) von allen für alle und streng demokratisch organisiert; als „Vielfaltsreserve“, wie es damals hieß, sollten sie unzensiert (und werbefrei) all jenen Gehör verschaffen, die ansonsten von den Medien ausgegrenzt werden.

Heute gibt es in fast jeder größeren Stadt Offene Kanäle, doch mit den Utopien von einst hat die Praxis wenig zu tun: Der typische Anbieter im Offenen Kanal, Fernsehen wie Hörfunk, ist männlich, eher jung, stammt aus der Mittelschicht, und sieht im Offenen Kanal weniger ein politisches Instrument als eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Er sendet nicht, um die Welt zu ändern, sondern für Gleichgesinnte. Und er setzt gern auf Unterhaltung. Überwiegendes Motiv der Nutzer ist laut einer Studie über die Offenen Kanäle „Spaß an der Arbeit mit Medien“ (76 Prozent).

Das andere Extrem sind Programme, die sich von vornherein an Minderheiten richten, seien sie nun ethnischer oder sexueller Art. Immerhin entspricht diese Form noch in einem Punkt den Forderungen der Medienkritiker: Die Zahl der Menschen, die Meinung formulieren, ist so groß wie die Zahl derjenigen, die Meinungen aufnehmen; allerdings sind beide Gruppen recht überschaubar. Außerdem nehmen die Kanäle bei Ausländern in ihrer Bedeutung ab – viele empfangen inzwischen via Satellit ihre Heimatsender (bei den Türken z.B. 90 Prozent).

Offene Kanäle erzielen in der Gesellschaft kaum nennenswerte Resonanz; das war wohl auch nicht anders zu erwarten. Nur in Ausnahmefällen stellen die Angebote relevante Faktoren innerhalb der lokalen Kultur dar. Das Interesse hat sogar eher abgenommen: Wer zwischen dreißig professionellen Fernsehprogrammen und Dutzenden Radiosendern wählen kann, muß schon gute Gründe haben, ausgerechnet einen Kanal zu wählen, das unübersehbar und unüberhörbar von Amateuren gestaltet wird. Offene Kanäle zeigen zwar Authentizität; aber genau darum fehlt ihnen das Publikum.

Scheitern die Offenen Kanäle also an den idealistischen Leitmotiven aus ihren Gründerjahren? Toben sich hier, wie die Gegner vermuten, bloß Chaoten, Verrückte oder notorische Querulanten aus? Oder sind die Offenen Kanäle nur noch bloße Alibiveranstaltungen: Einerseits ein Ersatz für Versäumnisse der Medienpädagogik, andererseits Feigenblätter für die ungezügelte Medienkonzentration, damit wenigstens ein bißchen der Forderung des Bundesverfassungsgerichts Genüge getan wird, alle gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen müßten im Rundfunk zu Wort kommen?

Als die sogenannte Expertengruppe Offener Kanal 1980 Regeln für Offene Kanäle formulierte, gab es zumindest in Deutschland noch keine Erfahrungen; das erste Kabelpilotprojekt begann erst vier Jahre später (in Ludwigshafen).

Die damaligen Ziele allerdings sind nach wie vor kaum eingelöst: Man wollte das öffentliche Leben in den Kommunen dadurch beleben, daß ein größeres Meinungsspektrum öffentlich wird; man wollte unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilnahme geben und die Rezipienten in öffentlichen Diskursen stärken. Das Medium, mit dem diese Ziele erreicht werden können, waren die Offenen Kanäle aber nicht.

Doch sie haben andere Ziele erreicht, an die die Experten damals überhaupt nicht gedacht haben. Faßt man die Definition politischer Arbeit etwas weiter, sind Offene Kanäle auch politische Einrichtungen, wenn sie bloß Musik spielen. Schließlich wird auch das Musikgeschäft längst von wenigen großen Konzernen beherrscht. Mit Sendungen im Offenen Kanal, die Musik spielen, die nicht aus den Pressen der großen Musikkonzerne stammt, knüpfen sie ein kleines Netzwerk.

Offene Kanäle verwirklichen nicht nur in dieser Hinsicht die Fischteich-Theorie von Alexander Kluge: Im Winter macht man Löcher ins Eis kleiner Teiche und füllt diese Löcher mit Stroh, damit die Fische Sauerstoff kriegen. Auf Medien übertragen heißt das: Es müssen innerhalb der synthetischen Produkte Fernsehen und Radio Alternativen am Leben erhalten werden: Öffentlichkeitsformen, die für eine kleine Zuschauergruppe noch sinnvoll sind (denn ohne Publikum sind sie klinisch tot) – und zwar so lange, bis eine Vielzahl von Menschen diese Alternative will.

Kluge prophezeit: Die Menschen würden dereinst authentische Erfahrungen einfordern und merken, daß die modernen Medien nicht für jeden etwas zu bieten hätten, sondern für alle dasselbe immer wieder anders. Kluge und seine Mitstreiter setzen dabei auf den materialistischen Instinkt: Irgendwann werde der Abstand zwischen Versprochenem und Erhaltenem so groß sein, daß nicht mal das allabendliche Fernsehangebot die alltägliche Unzufriedenheit zudecken könnte. Das wäre die Stunde der Offenen Kanäle.