Das Hohelied des kleinen Lebens

■ Der Nobelpreis für Literatur geht an Jose Saramago. Der portugiesische Schriftsteller hat das Engagement nicht verlernt - auch wenn seine Geschichten mit den Jahren leiser geworden sind

Berlin (taz) – Es gibt Länder, die liegen beharrlich abseits, trotz Globalisierung und Internet. Portugal ist solch ein Land. Daß der Schriftsteller José Saramago in seinem Buch „Das steinerne Floß“ beschreibt, wie sich die Iberische Halbinsel vom Kontinent abtrennt, ist wohl kein zufälliges Bild. Spanien und mehr noch Portugal sind erst spät politisch und kulturell zum Europa der Moderne gestoßen, und darin liegt wohl der Hauptgrund, warum der wichtigste zeitgenössische portugiesische Autor erst in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Saramago ist in gewisser Hinsicht ein Sonderfall der portugiesischen Literatur. Kein anderer der bekannten zeitgenössischen Autoren seines Landes hat sich politisch so deutlich engagiert wie er, und keiner versucht so beharrlich, seine Überzeugungen auch in seinen Werken zum Ausdruck zu bringen – wobei sich die Form dieses Ausdrucks mit den Jahren verändert hat. Neben seinen sozialkritischen Büchern hat vor allem sein 1991 erschienenes „Evangelium nach Jesus Christus“ inner- und außerhalb Portugals heftige Debatten über die Rolle von Kirche und Religion ausgelöst. Im Jahr 1992 beteiligte sich Saramago an einer taz-Aktion zur Unterstützung von Salman Rushdie, gegen den die Fatwa der iranischen Mullahs ergangen war. „Aus Geschichten ist das Brot gemacht, das wir essen“, schrieb er damals an Rushdie, „und die bösen Zungen sollen schweigen.“

1922 im hungerleidenden Ribatejo geboren, mußte der Sohn einer Landarbeiterfamilie aus finanziellen Gründen das Gymnasium verlassen und wurde Maschinenschlosser, wechselte allerdings bald in die Verwaltung. Seit 1969 Mitglied der portugiesischen KP, lebte er auf, als 1974 die Nelkenrevolution die Diktatur von Caetano beendete, und arbeitete im selben Jahr im Ministerium für Kommunikation. 1975 war er stellvertretender Chefredakteur der größten portugiesischen Tageszeitung Diario de Noticias, für die er schon zuvor Essays geschrieben hatte. Das erste Werk, mit dem er auch im Ausland bekannt wurde, „Hoffnung im Alentejo“ (1980), war eine Ode an die portugiesischen Landarbeiter, eine dramatische Darstellung von Hunger und Ausbeutung, die in Südportugal vor der Revolution das Leben der Bevölkerung bestimmten.

Auch in den darauffolgenden Werken blieb Saramago ein engagierter Schriftsteller, wenngleich seine kommunistische Weltanschauung nicht mehr explizit zum Ausdruck kam. Die Bücher der letzten Jahre – etwa die „Geschichte der Belagerung von Lissabon“ oder sein neuestes Werk „Todos os nomes“ (Alle Namen), das in deutscher Übersetzung noch nicht vorliegt, sind engagierte Literatur in leisen Tönen. In der „Belagerung von Lissabon“ verändert ein Korrektor, ein grauer Mann in mittleren Jahren mit einem kleinen Leben ohne Aufregungen, den Gang der Geschichte, indem er an einer Stelle des lektorierten Buches ein kleines, aber folgenschweres „nicht“ einfügt. Aufgrund eines kleinen Aktes müssen ganze Geschichten neu geschrieben werden, erfahren die Leser. Aufgrund dieses kleinen „nicht“, einer winzigen Aufmüpfigkeit, verändert sich auch das Leben des Lektors, der sich verliebt und zwar kein anderer Mensch wird, aber doch eine andere Facette in sich entdeckt.

Auch Saramagos neuestes Buch „Alle Namen“ bewegt sich in der Welt der kleinen Existenzen, der alltäglichen Einsamkeit, in der noch nicht einmal ernsthafte Wünsche nach Veränderung aufkeimen. In einem Katasteramt arbeitet – und lebt – der Held der Geschichte, umgeben von den Namen der Toten und Lebenden. Die Unterschiede zwischen beiden scheinen gering, selbst räumlich liegen Lebende und Tote hier im Amt dicht beieinander, wie auch den Angestellten nicht viel von dem staubbedeckten Papier unterscheidet, das die Daten enthält. Doch dann geschieht etwas, das etwas anderes nach sich zieht, und der kleine Angestellte erwacht zum Leben, hangelt sich heimlich an einer Schule hoch und verbringt die Nacht auf des Direktors verlassenem Sofa – unerwartete Abenteuer, über die er selbst ebenso erstaunt ist wie der geduldige Leser.

Denn Geduld fordert Saramago von seinem Publikum, sie sind nicht eingängig und nicht schnell, seine Geschichten. Langsam entwickeln sie sich, endlose Sätze, um die Gedankengänge nicht abreißen zu lassen, Anspielungen, Ironie, alles verbunden mit einer fast zärtlichen Beschreibung des Alltäglich-Melancholischen. Es sind leise, behutsame Geschichten, in denen Menschen nicht zu neuen Menschen werden – der Traum von der Revolution ist ausgeträumt –, aber doch immerhin die anderen, die lebendigen Seiten in sich selbst entdecken. Geschichten der kleinen Hoffnung, des vorsichtigen Optimismus.

Schon letztes Jahr, als die Buchmesse der portugiesischen Literatur gewidmet war, hatten viele erwartet, daß Saramago – oder auch sein jüngerer Kollege Antonio Lobo Antunes – den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen würde. Dieses Jahr erklärte ein zufriedener Saramago, er erachte die Auszeichnung als Verpflichtung für sich selbst und hoffe, daß in der Zukunft die portugiesische Literatur auch im Ausland mehr Aufmerksamkeit finden werde. Antje Bauer