■ „Große“ Männer versuchten Istanbul zu erobern. Die Stadt stieß sie immer wieder zurück
: Eine jungfräuliche Witwe, die tausend Männer zurückließ

Die Liebe. In meinen Erinnerungen sind eine Stadt und eine Frau untrennbar mit der Liebe verbunden. Die Stadt ist Istanbul. Die Frau ist meine Großmutter Besire. Gott hab' sie selig. Meine Großmutter, die eigentlich in Ankara wohnte, pflegte jedes Frühjahr in ihre „Sommerwohnung“ im asiatischen Teil Istanbuls, in Fenerbahce, überzusiedeln – eine Neubauwohnung mit Blick auf das Marmarameer und die Prinzeninseln.

Konservativismus war ihr zuwider. Sie entledigte sich alter Möbel, als seien es alte Klamotten. Als Mädchen hatte sie sich schon von einem Tag auf den anderen des Schleiers entledigt. Jeden Sonntag nahm sie mich bei der Hand, und wir schlenderten zum Strand. Wir sonnten uns, badeten und es gab etwas zu schlemmen. Abends gingen wir ins Freiluftkino. Wir kauften Sonnenblumenkerne, und gegen eine Leihgebühr gab es ein Kissen.

Baden kann man in Fenerbahce längst nicht mehr. Das Wasser ist verschmutzt. Nur wer Gefahr für Leib und Leben auf sich nimmt, steigt in Istanbul ins Wasser. Wo einst Hunderte Freiluftkinos standen, haben Spekulanten Gebäude errichtet. Ich bin kein kleines Kind mehr und meine Großmutter ist schon seit Jahren tot. Die sechziger Jahre werden nicht zurückkehren. Doch die Liebe zu Istanbul blieb.

Zwei Annährungsversuche an diese Stadt sind mir im Gedächtnis geblieben: Der Dichter Küçük Iskender schrieb, Istanbul sei „eine Geburtsklinik, errichtet auf einem Friedhof“. Ein anderer Autor, an den ich mich nicht mehr erinnere, meinte, Istanbul sei „eine schöne, jungfräuliche Witwe, die schon über tausend Ehemänner hinter sich gelassen habe“. Beide Formulierungen bedürfen einer beispielhaften Erklärung.

Aus der Hauswand des Nachbarn sproß ein Feigenbaum. Der Nachbar versuchte alles, um dem Baum ein Ende zu bereiten. Er sägte die Äste ab und bewarf die Stelle mit Kalk. Nichts half. Irgendwann werden wohl die Wurzeln des Feigenbaums das dreistöckige Haus zum Einsturz bringen. Und wahrscheinlich wird der Tod den Nachbarn einholen, bevor es so weit kommt. Im übrigen ist der Nachbar ein wunderbarer Mensch: Einer, der niemandem Leid zugefügt, doch viel gelitten hat. Jetzt, schon über sechzig Jahre alt, ist er dem Alkohol verfallen und lebt mit seinen Katzen in dem heruntergekommenen Haus. Abends hört man, wie er auf dem Saiteninstrument, dem saz spielt.

Der Familienstand der Stadt, die „verwitwet“ sein soll, klärt sich, wenn man an die angeblich „großen“ Männer denkt, die sie vereinnahmen wollten. Etwa der byzantinische Kaiser Justinian. Er hat durch Fremdtruppen, die zufällig in der Stadt weilten, seine eigene Stadtbevölkerung massakrieren lassen. Es folgten andere Kaiser und Sultane, in der Moderne Politiker und Putschisten. Sie reglementierten, sprachen Verbote aus und ließen Menschen an den Platanen der Stadt baumeln. Sie verfügten über Paläste und Männer in Waffen. Doch die Stadt eroberten sie nie. Die Macht ließ sie vereinsamen. Und irgendwann stieß die Stadt sie ab.

Als 1980 das Militär putschte, wurden die Teegärten entlang des Bosporus schnell als Unruheherde ausgemacht. Waren es doch Orte, wo die Einwohner miteinander plauschten. Die wohl schönsten Stätten der Stadt sollten herausoperiert werden. Fast zwei Jahrzehnte sind jetzt vergangen. Und wieder sprießen die Teegärten an den Ufern der Stadt. Irgendeine Mauer wird bemalt. Irgendwer macht Feuer und kocht Tee. Den alten Teegarten gibt es nicht mehr. Aber einen neuen.

Tausende Autoren haben versucht, Istanbul in ein politisch-kulturelles Koordinatensystem einzuordnen. Da ist die Rede von Ost und West, von Orient und Okzident, von Islam und Christentum. Doch jeder Istanbuler weiß, daß eigentlich der Nordostwind poyraz und der Südwestwind lodos die Geschicke der Stadt bestimmen. Der türkische Schriftsteller Ahmet Hamdi Tanpinar hat gar festgestellt, daß Istanbul keine Jahreszeiten kenne, sondern nur den „unerbittlichen Kampf zwischen poyraz und lodos“. Siegt der poyraz, behalten die Menschen einen klaren Kopf und die Ordnung wird gewahrt. Siegt der lodos, werden die Istanbuler zu Verrückten. Das Chaos bricht aus.

Die Symbole politischer und religiöser Macht – Kirchen, Moscheen, Paläste und Denkmäler – , die die Touristen locken, bedeuten dem Istanbuler weniger als der poyraz und der lodos. Die von den Herrschenden geschändeten Menschen haben als Überlebenskünstler nur so getan, als schätzten sie diese ihnen fremdartige Symbolik. Als es dann opportun erschien, wurden Ideologien über Bord geworfen, so schnell und zügig, wie meine Großmutter die alten Möbel vor die Tür stellte. Die Winde dagegen blieben. Meine Großmutter pflegte zu sagen: „Bei lodos bleiben wir zu Hause.“ Ömer Erzeren