Nahverkehr als Präzedenzfall

Die Gewerkschaft ÖTV befürchtet, der Privatisierung der Berliner Verkehrsbetriebe könnten weitere Städte folgen. Sie bietet Lohnverzicht und längere Arbeitszeiten an  ■ Von Hannes Koch

Berlin (taz) – Ernst-Otto Kock hat einfachere Zeiten erlebt. Der stellvertretende Chef der Berliner Gewerkschaft ÖTV muß einen Einbruch in seinen Machtbereich nach dem anderen wegstecken. Wasserbetriebe, Stromversorgung, Flughäfen – was sich irgendwie verkaufen läßt, bringt der Berliner Senat unter den Hammer. Der letzte Coup der Landesregierung: Zusammen mit der Deutschen Bahn AG will sie die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), das größte staatliche Nahverkehrsunternehmen der Republik, privatisieren.

Gestern mobilisierte die Gewerkschaft den geballten Arbeitnehmer-Sachverstand gegen die Pläne für die neue Verkehrsholding (siehe Kasten). ÖTV-Chefin Susanne Stumpenhusen gab die Parole aus: „Die Holding ist schädlich für alle, für die Fahrgäste, die Beschäftigten und das Land“ – wozu der aus der Stuttgarter ÖTV- Zentrale angereiste Hilmar Schmidt-Kohlhas beifällig nickte. Die Bundesleitung der Gewerkschaft erkennt einen bundesweiten Präzedenzfall: Wenn die Bahn AG die BVG schlucke, stünden bald weitere Nahverkehrsbetriebe in Hamburg, Frankfurt oder München auf der Privatisierungliste.

Die Gewerkschaft steht unter Rechtfertigungsdruck. Sie will die BVG mit ihren 16.400 Beschäftigten in Landesbesitz halten und muß belegen, daß diese Lösung ähnliche Einsparungen bringen kann wie die Gründung der Bahn- Holding. Doch die Berliner Landesregierung will nicht länger fast eine Milliarde Mark jährlich in die defizitäre BVG stecken.

Mehrere hundert Millionen Mark ließen sich durch „Produktivitätssteigerungen“ einsparen, heißt es bei der Gewerkschaft. Nicht einmal vor Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich für Busfahrer und niedrigeren Einstiegslöhnen für neue BVGler schrecken Arbeitnehmervertreter zurück. „Auch die Beschäftigten haben gemerkt, daß sich die Randbedingungen verändern“, erklärte ÖTV-Personalratschef Uwe Nitzgen gestern. Außerdem schlägt die Organisation vor, 5.500 BVG-eigene Wohnungen zu versilbern, um einen Teil der Pensionslasten zu tragen. Ob derartige Maßnahmen allerdings reichen, um die geforderten Beträge einzusparen, steht nicht fest. Demgegenüber nimmt sich der Vorschlag der Bahn AG so brutal wie elegant aus. Langfristig soll das Land Geld sparen, indem die neuen Beschäftigten der Holding grundsätzlich zu niedrigeren Löhnen eingestellt werden. Das alte, teure Personal bleibt bis zur Rente beim Land – so funktioniert die biologische Entsorgung finanzieller Probleme.

Neben öffentlicher Argumentation sind die Möglichkeiten der ÖTV jedoch begrenzt. Streik als Mittel fällt jedenfalls aus, denn beim Holding-Modell würde der bestehende Tarifvertrag einfach weiterlaufen. „Ein Arbeitskampf wäre rechtswidrig“, gesteht ÖTV- Chefin Stumpenhusen.