Eine Überdosis guter Ratschläge an die Koalitionäre

■ Die Atomverhandlungsrunde sieht sich mit unterschiedlichsten Forderungen und Drohungen konfrontiert. Der Wechsel bringt liebgewonnene Schlachtordnungen durcheinander

Soviel Ratschlag war nie. Wenn die Beteiligten an der Bonner Atomkonklave alle Positionspapiere ernstnehmen, die ihnen in den letzten Tagen auf den Verhandlungstisch geflattert sind, wird der Ausstieg wohl eine Weile warten müssen. Gerade so, als wollten sich sämtliche Nukleardiskutanten der vergangenen 25 Jahre vor dem großen Gefeilsche um Ausstieg, Wiederaufarbeitung und Restlaufzeiten noch ein letztes Mal ihrer eigenen Überzeugungen vergewissern, bombardierten Umweltschützer, AKW-Gegner, Industrieverbände, Gewerkschaften und Atomlobbyisten die Verhandler mit ihren Pamphleten. Nur die Stimme der Noch-Regierenden fehlte in dem dissonanten Chor. Dort leckt man Wunden.

Manche formulieren ihre Wortmeldungen, als hätten sie die vergangenen zwei Wochen im Koma gelegen. Nur mühsam kommt der Wechsel in die Köpfe. Das Deutsche Atomforum, die mäßig machtvolle Propaganda-Abteilung der Nuklearwirtschaft, droht der neuen ersten mit der alten dritten Gewalt und mit Entschädigungsforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe. Parole: keine Abschaltungen – nirgends.

Auch die potentiell betroffenen Stromer selbst nehmen vorsorglich Kampfeshaltung an. Die Münchner Bayernwerke bestehen vehement auf der Fortsetzung der Plutoniumproduktion in La Hague und Sellafield, obwohl die teure Alternative zur direkten Endlagerung schon unter der alten Regierung auf der Kippe stand. RWE- Vorstandschef Dietmar Kuhnt ist an „Konsensgesprächen brennend interessiert“, solange die sich nicht um den Ausstieg drehen. Er verlangt den „politisch ungestörten Weiterbetrieb“ seiner Altmeiler.

Der politische Super-GAU ist da, aber alles soll bleiben wie bisher. Das Primat der Politik, von den Eliten der Stromwirtschaft zum Nachweis eigener demokratischer Reife 16 Kohl-Jahre beschworen, endete für die Herren abrupt am 27. September 1998.

Jetzt ruft die Gegenseite nach dem Staat. Greenpeace forderte schon das endgültige Verbot aller Atomtransporte – ob hin oder zurück, ob im In- oder aus dem Ausland –, als Joschka Fischer am 28. September gerade die Jogging- Schuhe überstreifte. An den Standorten geben die BI-Aktivisten die trotzige Parole aus, wir kämpfen weiter gegen alle Atomanlagen, ob sie nun den Ausstieg vorbereiten oder dem Weiterbetrieb dienen. Nur der Sofortausstieg helfe gegen den potentiellen GAU, weiß der einst mächtige Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Jutta Ditfurth, ehemals grüne Fundi-Frontfrau, geißelte in alter Gewohnheit schon mal vorab den bevorstehenden neuen Verrat an der grünen Seele. Und grüne Parteifreunde in Schleswig-Holstein fragen, warum eine rot-grüne Bundesregierung eigentlich nicht 40 Milliarden Entschädigungszahlungen für den Atomausstieg lockermachen will, wo doch die Bundeswehr jedes Jahr noch mehr koste.

Spannender sind die Debatten, die sich seit der Bonner Zeitenwende jenseits wohlfeiler Bekenntnisse entwickeln. Zum Beispiel in und um Gorleben. Die Hoffnung auf ein Ende des Endlagerprojekts im Wendland trübt dort die realistische Aussicht, daß das Castor-Lager sich nach einem deutschen Abschied von der Wiederaufarbeitung im Ausland viel rascher füllen könnte als vor dem Bonner Machtwechsel. „Sich als Ausstiegsapostel feiern lassen und gleichzeitig den Standort Gorleben zementieren“, warnte Gorleben-Anwalt Nikolaus Piontek vorsorglich gen Bonn, „das werden wir nicht akzeptieren.“

Den Spaltpilz in die AKW-Bewegung trägt auch ein kurz vor der Wahl veröffentlichtes Entsorgungsgutachten, das die „Gruppe Ökologie“ (GÖk) in Hannover für die grüne Heinrich-Böll-Stiftung erarbeitete und das nun plötzlich in den Rang einer Handlungsanweisung für die künftige Entsorgungsstrategie in Deutschland aufsteigt. Der Knackpunkt: Die Autoren empfehlen zur Minimierung der Transporte und Umgangsschritte mit Atommüll neue dezentrale Zwischenlager an allen Meilern, die nicht in kurzer Frist abgeschaltet werden. Ein Konzept, das auch der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner (SPD) favorisiert, der in der Energie-Fachgruppe sitzt, die den Bonner Koalitionären zuarbeitet.

Dagegen, droht Anti-Brokdorf- Aktivist Karsten Hinrichsen, werde sich an allen Atomstandorten geballter Widerstand regen. Hinrichsen irrt: Am Standort des Zwischenlagers Gorleben stößt das GÖk-Konzept, das auch das Öko-Institut in Darmstadt seit Jahren favorisiert, auf Sympathie.

Es kommt noch besser: Schon bald könnten sich die Standort-BIs in einer Front mit den AKW-Betreibern wiederfinden, die dezentrale Zwischenlager ebenfalls ablehnen, solange die (von ihnen bezahlten) Castor-Hallen in Gorleben und Ahaus leerstehen.

Außerdem, so fürchten die Betreiber, werde sich um die Genehmigung der Standortlager wie üblich ein endloses juristisches Hickhack entwickeln. Keine Sorge, beruhigte anläßlich der Vorstellung des GÖk-Gutachtens in Hannover Hans Martin Groth, Mitautor des grünen Ausstiegsgesetzes: Unter Rot-Grün „können Sie das in eineinhalb Jahren genehmigt bekommen“. Es wird eben alles besser. Gerd Rosenkranz