Konservative Ordnungsmacht

■ Kosovo: Menschenrechte oder Völkerrecht – was soll bei der Nato-Intervention gelten? Ein kurzfristig unlösbares Dilemma

Bei der Frage, ob die Nato im Kosovo militärisch eingreifen soll, kollidieren zwei Prinzipien: einerseits das geltende Völkerrecht, das die Souveränität der Nationalstaaten schützt, andererseits das humanitäre Prinzip, daß man nicht tatenlos zusehen darf, wie Tausende sterben. Micha Brumlik und Hajo Funke haben in der taz kürzlich für einen militärische Einsatz ohne UN-Mandat im Kosovo plädiert. In der Abwägung zwischen völkerrechtlichen Einwänden und menschenrechtlicher Verpflichtung, so die Autoren, kann es sich als moralisch unumgänglich erweisen, letzterer den Vorrang einzuräumen.

Die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht und Moral ist eine kniffelige. Auch wenn es Gründe geben mag, die Menschenrechte in diesem Fall über das Völkerrecht zu stellen, bleibt ein Dilemma: Es existiert keine andere Garantie für die Menschenrechte dieser Welt als die Institutionen der internationalen Staatengemeinschaft, die sich völkerrechtlich konstituiert. Um es scharf zu formulieren: Wenn staatliche Handlungen, die sich zu Recht auf Menschenrechte berufen, zu einer Zerstörung der internationalen Staatenordnung führen – dann untergraben sie eben die Bedingungen, unter denen Menschenrechte gegenwärtig überhaupt eine Chance auf allgemeine Geltung haben.

Eine fallweise Verletzung des Völkerrechts unter Berufung auf die Menschenrechte ließe sich also nur rechtfertigen, wenn die entsprechende Handlung letzten Endes auch die völkerrechtlich konstituierte Staatengemeinschaft stärkt. Das aber wäre für die geplanten Nato-Aktionen erst einmal nachzuweisen.

Auch der Frage, ob der geplante Nato-Einsatz wirklich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das „absolute Recht auf Leben“ der Flüchtlinge garantieren kann, gehen Brumlik und Funke nicht weiter nach. So reichen ihre Überlegungen weder aus, um einen „Abschied von der ,Realpolitik'“ moralisch zu rechtfertigen noch den geplanten Nato-Einsatz praktisch zu begründen. Sie verhindern aber, sich zu drücken. Wie das geht, zeigt der taz-Beitrag von Reinhard Mutz, der als Mittel zur Vermeidung des Nato-Einsatzes nur die Festlegungen der jüngsten UNO- Resolution anbietet, deren Nichteinhaltung durch das Belgrader Regime die Intervention erst auf die Tagesordnung setzte.

Der Widerspruch zwischen völkerrechtlich geordneter Staatengemeinschaft und allgemeiner Geltung der Menschenrechte resultiert daraus, daß manche UN- Mitgliedstaaten partout nicht gewillt sind, die Menschenrechte zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Die Staatengemeinschaft kann erst dann real als Garant der Menschenrechte wirken, wenn sie sich aus demokratischen Republiken zusammensetzt, die im Inneren gelten lassen, was sie im internationalen Raum zur Geltung bringen wollen. Insofern enthält die UNO in sich selbst ein „utopisches“ Element, das weit über ihre gegenwärtige Gestalt hinaus zielt.

Man kann kaum erwarten, daß ein Staat wie Rußland, der in Tschetschenien als Exempel statuierte, was Serbien in kleinerem Maßstab im Kosovo betreibt, sich bereit findet, dort ein Präjudiz zuzulassen, das gegen ihre eigene Souveränität ausschlagen könnte. Was fällt China zum Kosovo schon anderes ein als das ungelöste Tibetproblem und daß Peking in der Taiwanfrage keine internationale Einmischung möchte? Wer also die Geltung von Menschenrechten in der Staatengemeinschaft durchsetzen will, darf die Gegnerschaft von Staaten nicht scheuen, die auf Grund ihrer antidemokratischen und imperialen Verfassung in einer Intervention, wie sie die Nato plant, einen potentiellen Anschlag auf sich selbst sehen.

Das vermittelnde, aber weithin fehlende Glied zwischen völkerrechtlich konstituierter Staatengemeinschaft und Sicherung der Menschenrechte durch diese Staatengemeinschaft ist die demokratische föderative Republik. Wenn man also die von Micha Brumlik und Hajo Funke aufgeworfenen Probleme weiterverfolgt, stößt man auf die Frage, ob eine Intervention der Nato im Kosovo die republikanische Idee in der Staatenwelt fördert oder schwächt. Sie stellt sich für die an der Intervention beteiligten Staaten, für die Unterdrücker und die Unterdrückten im konkreten Konflikt wie für die Staaten, die sich gegen jede „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ wenden, weil die ihren zum Himmel stinken. Nehmen aber Republiken nicht an sich selber Schaden, wenn sie tatenlos zusehen, wie hemmungslos gemordet und vertrieben wird? Müssen sich die Unterdrückten dann nicht von ihnen abwenden, die Unterdrücker ihrer spotten?

Müssen die einer republikanischen Staatengemeinschaft feindlichen Mächte sich dadurch nicht in ihrem Treiben ermutigt fühlen? Zumal wenn sie trotz ihres Vetos auf weitere Milliardenkredite setzen können, wenn sie sich nicht direkt zum Waffenbruder des angeklagten Regimes erklären? Wenn die Republiken auf entschlossenes Eintreten für die Menschenrechte verzichten, schwächen sie zugleich die Bedingungen, unter denen die Staatengemeinschaft ihren friedenstiftenden Charakter erst entfalten kann.

Die Nato freilich agiert im Kosovo, wie schon zu Beginn des Jugoslawien-Krieges, als eine konservative Ordnungsmacht. In einer Welt, die an allen Ecken und Enden aus den Fugen kracht, will sie die Staatenwelt in Ordnung halten und deren Grenzen schützen. So kommt diese Intervention, wenn sie kommt, zu spät. Die Nato hat abgewartet, wie serbische Truppen zusammen mit den „Terroristen“ und „Separatisten“ die Zivilbevölkerung vertrieben und massakrierten. Deshalb ist heute eine politische Lösung ungleich schwerer geworden. Vor sechs Monaten hätte es die Nato noch mit zwei Seiten zu tun gehabt, die in einem gewissen Gleichgewicht standen. Damals wäre es leichter gewesen, beiden Seiten Zugeständnisse abzuringen, die Frage der Unabhängigkeit auf seiten der Albaner auf den Kern von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu konzentrieren und Serbiens Souveränitätsanspruch auf die Grenzfrage zu reduzieren.

Inzwischen hängt jede Verhandlungslösung in der Luft und ist allein von Milosevics Gnade und äußerer Einwirkung abhängig. Jetzt heißt es nur noch, „zu schießen oder das Maul zu halten“ (Newsweek). Vor diesem Dilemma werden die Republiken immer wieder stehen, solange sie die konservative Ordnungsmacht spielen, anstatt als eigenständige Kraft aufzutreten. Die Staatenwelt muß ihre demokratischen Fundamente erst noch schaffen, damit die Menschenrechte halten, was sie versprechen. Joscha Schmierer