Lieber auf dem Elefanten reiten

Indiens Wirtschaft ist von der Asienkrise kaum berührt, wohl gerade weil der Kapitalverkehr nicht frei ist. Der Reformmangel hat aber nicht nur Vorteile  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Als die staatliche Geschäftsbank State Bank of India (SBI) Ende Juli eine internationale Anleihe lancierte, waren Skeptiker schnell bei der Hand. Indien war nach seinen Atomtests das Ziel westlicher Wirtschaftssanktionen, die großen Rating- Agenturen hatten das Land zum Risikofall erklärt, und die Wachstumsraten der letzten Jahre zeigten einen kontinuierlichen Abwärtstrend. Selbst die State Bank, der das Finanzministerium die Organisation der Anleihe aufgebrummt hatte, sah darin mehr einen verzweifelten Versuch der Regierung, das sanktionsbedingte Devisenloch zu stopfen.

Einige Wochen später rieb sich auch SBI die Augen. Der Resurgent India Fund brachte nicht weniger als 4,1 Milliarden US-Dollar in die Kasse. Obwohl sich die Anleihe nur an Auslandsinder wandte und mit 7,75 Prozent auf fünf Jahre nur zwei Prozent teurer als amerikanische Staatspapiere verzinst wird, übertraf sie alle Erwartungen. Damit ist der Regierung zumindest ein psychologischer Sieg gelungen. Sie hat gezeigt, daß Indiens Kreditwürdigkeit auf dem internationalen Kapitalmarkt trotz der Asienkrise weit besser dasteht als die seiner Nachbarn.

Auch die Weltbank attestiert dem Land in ihrem jüngsten Bericht eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegen den asiatischen Virus. Forschungsinstitute sagen voraus, daß das Gesamtwachstum im laufenden Jahr noch über den fünf Prozent des Vorjahres betragen dürfte. Falls dies gelingt, könnte sich Indien, das jahrzehntelang den Wachstumsraten seiner südost- und ostasiatischen Konkurrenten hinterherlief, plötzlich weit vorne wiederfinden und dort selbst Chinas Spitzenposition gefährden.

Propagandisten der Swadeshi Jagran Manch, einer der Regierungspartei BJP nahestehenden Lobby, die für eine Abschottung Indiens vom Welthandel plädiert, jubelt. Für sie ist dieses Wachstum nicht wegen, sondern trotz der Wirtschaftsreformen der Regierung zustande gekommen. Zu ihrem Leidwesen ist nämlich der Handel inzwischen liberalisiert. Aber der Zahlungsverkehr und die Wechselkurspolitik sind immer noch weit vom Ziel eines freien Kapitalverkehrs entfernt.

Als die Zentralbank kürzlich gegen den spekulativen Abwärtstrend der Rupie intervenierte, tat sie dies nicht mit Dollarverkäufen – obwohl ihre Devisenkasse mit 26 Milliarden US-Dollar reichlich gefüllt ist. Vielmehr änderte sie gleich die Liquiditätsvorschriften und hinderte so die Banken daran, Rupien zu verscherbeln.

Dasselbe gilt für das globale Anlagekapital, das mit seiner Flucht aus den asiatischen Währungen deren Sturz einleitete. In Indien müssen die Portefeuille-Investoren, also die Anleger, die nur in Wertpapiere investieren, ihr Kapital für eine bestimmte Periode einschließen, bevor sie es nach Hause transferieren können. Dies hat dazu geführt, daß Indien bei Auslandsinvestoren nicht sonderlich beliebt ist. Jahr um Jahr konnte das Land nur etwa ein Zehntel des Kapitals anlocken, das China an Land zieht.

Indien reitet, so scheint dessen langsamer Reformprozeß zu zeigen, lieber auf dem Elefanten als auf dem Tiger. „Das ist zwar langsamer, man wird beim Herunterfallen aber nicht gefressen“, sagte der Bombayer Broker Jamal Mecklai.

Indische Ökonomen weisen jedoch das Argument zurück, Reformmangel habe das Land von der Krise verschont. Sie geben als Grund eher die kontinentale Größe des Landes an, das mit beinahe allen wirtschaftlichen Grundstoffen gesegnet ist, die es braucht.

Im Gegensatz etwa zu Japan und China trägt der Außenhandel nur zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Selbst ein Rückgang bei den Exporten – unter dem Indien genau wie andere asiatische Länder leidet, läßt die Währung deshalb nicht zusammenbrechen.

Zur Größe der Wirtschaft kommt der immense Modernisierungsbedarf der Wirtschaft, der dem Land eine gewisse Attraktivität für Investoren wahrt. Der Wirtschaftswissenschaftler Rakesh Mohan weist darauf hin, daß alle Infrastrukturbereiche Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe brauchen. Die Landwirtschaft, die immer noch das Rückgrat der Wirtschaft darstellt, ist zudem noch gar nicht in den Reformprozeß einbezogen worden. Deren großes Industrialisierungspotential bleibt noch weitgehend unausgeschöpft.

Es ist nicht nur die weise Vorsicht der indischen Planer, die eine allzu rasche Gangart vermeiden. Die Schwerfälligkeit demokratischer Prozesse verzögert die rasche Inangriffnahme vieler Aufgaben. Und ihre Kehrseite läßt sich nicht übersehen. Sie verweigert Millionen armer Menschen das Erreichen eines würdigen Lebensstandards.

Die Verschuldung des Staates – sie entspricht zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts – führt zu einer derart starken Verteuerung finanzieller Ressourcen, daß dem Privatsektor zunehmend der Atem ausgeht. Der Staat schafft damit ausgerechnet ausländischen Firmen einen Konkurrenzvorteil, da sich diese wesentlich billiger finanzieren können.