Land ohne Eigenschaften

■ „Kotz mich doch voll mit Deutung“: Die Lesereihe Parallelaktion stellt ausbruchbereite österreichische Autoren im Thalia Theater vor

Das beste an Literatur ist ihre Fremdheit. Worin aber besteht das Befremdliche bei den Texten unserer deutschsprachigen Nachbarn? Wir verstehen ihre Sprache, und doch sind ihre Texte aufgrund der anderen Vergangenheit, Tradition und Gegenwart des Landes verschieden von denen bundesdeutscher Autoren. Es hat seinen Reiz, den Unterschieden und Eigenheiten nachzugehen. Bot die Buchmesse vor kurzem Gelegenheit zur intensiven Beschäftigung mit der Schweizer Literatur, gibt es in den nächsten Wochen in Hamburg die Chance, bedeutende österreichische Gegenwartsautoren kennenzulernen. Robert Musil darf dabei natürlich nicht fehlen – als Hommage an den Großromancier gaben Thalia Theater und österreichisches Generalkonsulat ihrer Veranstaltungsreihe in Anspielung auf Musils Mann ohne Eigenschaften den Namen Parallelaktion.

Auch wenn sich die Besetzung der Parallelaktion dem Zufall der Zusagen verdankt, eröffnet die Autorenauswahl einen weiten Blick auf die spezifisch österreichische literarische Tradition, der alle Gattungen umfaßt: Da sind radikale Sprachvirtuosen wie Friederike Mayröcker (*1924; Lesung 15. 10.), provokante Idyllenzertrümmerer wie Peter Turrini (*1944; 25. 10.), betörende Schreckensschwärmer wie Christoph Ransmayr (*1954; 11.11.), die Welt- und Sprachskeptikerin Ilse Aichinger (*1921, 26.11.), der wörtersprudelnde Franzobel („geboren 1967, diverse Lebensläufe“; 19.1.) und der eigenwillige Essayist und Romancier Robert Menasse (*1954; 6. 2.).

„Soll man wieder beginnen, die alten rührseligen Geschichten zu erzählen“ – diese rhetorische Frage Ilse Aichingers aus Schlechte Wörter würden die Eingeladenen unisono verneinen, wenngleich Robert Menasse in seinem Essay Das Land ohne Eigenschaften den Österreichern alle Entschiedenheit abspricht. Er hat als Charakteristikum der österreichischen Identität ein raffiniert ausbalanciertes „Entweder-und-Oder“ ausgemacht. Weltflüchtendes Nichthandeln gilt als entscheidendes Merkmal, Adalbert Stifters Roman Nachsommer als Inkarnation österreichischer Literatur. Das nachwirkende Trauma aufgrund des Untergangs der K.u. K.-Monarchie, das Fehlen einer republikanischen Tradition fänden demnach ihre Entsprechung in einer bloß poetischen Revolte, in Wirklichkeitsverweigerung und Handlungsverzicht. Doch wer sagt, daß Sprache kein Handeln sei?

Friederike Mayröcker, die obsessiv produktive Wienerin, nennt Schreiben ihr Überlebensmittel, „einen verbalen Umschlagplatz aller Erscheinungen oder Erfahrungen des Tages.“ Sie verwandelt das Leben in einen mitreißenden Sprachstrom. „Ich denke mein Ich laut vor mich her, ziehe verschwitzte Füße aus verschwitzten Socken“ – Franzobel ist ein würdiger Nachfahre der Klassikerin Mayröcker. Sein öffentliches Ärgernis ist beredt: „Natürlich könnte ich mir die Literatur auch sparen. Wen begeistern schon die aneinandergereihten Durchhänger? Und dabei hängt soviel Leben drinnen. – Komm schon, Hanswurst. Kotz mich doch voll mit Deutung. Ich bin dein Tintenkuli, du bist mein Efendi, deine Auslegung Horizont.“

Der schreibende Reisende Ransmayr erinnert in Die Schrecken des Eises und der Finsternis an die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition von 1872-1874. Ransmayr entwirft Extremzonen, in denen die Defizite der Gegenwart und die Verwerfungen der Geschichte aufscheinen sollen. Er imaginiert Orte, die noch nicht im Würgegriff der Zivilisation scheinen: „Es ist wohl immer dieselbe verschämte Ausbruchsbereit-schaft ... nach Dienstschluß ... Wohin wir selbst nicht kommen, schicken wir unsere Stellvertreter – Berichterstatter.“

Was dieser kurze Bericht nur andeuten kann, wird die wirkliche Parallelaktion im Thalia Theater einlösen: Sie führt in die Literatur eines nahen, vielstimmigen Landes, auf eine vielversprechende Reise in die österreichische Gegenwartsliteratur. Frauke Hamann

erster Termin: Donnerstag, 15. Oktober, 20 Uhr, TiK mit Friederike Mayröcker