■ Nach dem wider- und rückstandslosen Weggang des „Merkur“ ist in München alles wie immer
: Mir war so lau bei Loden-Frau

München ist klasse. Wann immer man da ist – diese Stadt ist wie Freihaben: Da ist viel Bacchantisches und dennoch etwas völlig Leichtes, Schwebendes. Das ist nicht so eine protestantisch-verdruckste, von gedämpft tuenden Karrieristen und Schlipsis bevölkerte Zwischenhölle wie Hamburg, und auch nicht so eine aufgeblähte Brot- und Kuchen-Provinz wie Berlin, das zwar mehr Tempo hat als jedes andere deutsche Kaff, das aber immer noch preußisch auftrumpfen muß, zwanghaft. In Berlin kann man zurechtkommen; München ist das Elysium.

Das darf man allerdings nicht laut sagen, schon gar nicht, wenn man mittags um halb zwölf auf dem Viktualienmarkt ein Paar Weißwürste und eine halbe Helle frühstückt, denn sonst kommt vielleicht Herr Arno Luik vorbei, horcht das ab, und hinterher steht in GEO, man hätte schon frühmorgens getrunken, Senf am Kinn sowie Exzesse samt und sonders gehabt und sonstwas über München erzählt. Nicht, daß einem sowas nicht passierte, oder daß man heucheln wollte, aber dann lebt man einmal relativ diszipliniert, und schon liest man hinterher etwas in der Zeitung, das nach wüsten Dingen und nach Praktiken klingt. Ich meine: Muß das sein?

Andererseits: Arno Luik darf das. Denn Herr Luik war der beste Chefredakteur, den die taz je hatte – weshalb Herr Luik auch von lauem Volk weggemobbt wurde, das seine Karrierekraken nach Hamburg oder Frankfurt am Main ausstreckte bzw. soeben noch in der Lage war, eifrig nach dorthin zu telefonieren – was dort als Eintrittsschein offenbar genügt –; hach, die Anspruchslosigkeit unserer sogenannten Eliten.

Eine Schule genau dieser Eliten hat München vor kurzem eingebüßt: den Merkur, jenes Organ mit dem ulkigen Untertitel „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“. Der Herausgeber, Karl Heinz Bohrer, ist ein kluger Konservativer, und der Mann, der für ihn die Arbeit macht, Kurt Scheel, hat sich mit seinem Filmbuch „Ich & John Wayne“ zumindest in den Olymp auf Probe geschrieben. Kurt Scheel: ein Name, dem Respekt gezollt wird in Dogde City und an anderen Plätzen, wo Entscheidendes sich vollzieht. Und wenn noch nicht heute: Der Tag wird kommen. Um so mehr wundert man sich allerdings über das Zeug, das von solchen Herausgebern in Druck geworfen wird: „Die Gender-Studies sind wahrscheinlich das erfolgreichste Projekt der Postmoderne“, hebt eine Autorin in der jüngsten Ausgabe des Merkur das Singen über sich selbst an, und man ahnt: Was sie schreibt, kratzt keine Sau, aber da sie es ist, die da schreibt, muß es vom Wichtigsten sein. Immer schön, wenn man's selbst sagt.

„Wischen wir uns erst einmal die Speichelfäden vom Mund“, beschließt ein anderer Autor im selben Heft seinen Beitrag zur Postmoderne; da wird man stutzig: „wir“? Wieso soll ich wischen, nur weil der lüllt? Wenn solch saturiertes, sahnesteifes Gerede den Anspruch auf Geistigkeit erhebt, ist es besser, wenn der Geist sich entfernt. Ich habe ja nichts dagegen, daß die Welt schlecht ist oder schlecht eingerichtet – es ist halt erst mal so; aber wenn diejenigen, die sich aufschwingen, sie zumindest im Geiste klarer, klüger und somit besser zu machen, noch um einiges blöder und öder sind als der letzte Prolet in der Eckkneipe, dann werde ich doch langsam ungehalten.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Nein, selber habe ich keine Ambitionen in dieser Richtung – ich rufe nur so vom Spielfeldrand rein, und wer sich das dann anhören will, kann das gerne tun. Die, die nicht wollen, sollen halt weiterölen. Das macht auch nichts, denn das machen sie ja sowieso.

München jedenfalls hat den Weggang des Merkur ganz wider- und rückstandslos weggesteckt. Alles ist wie immer, es gibt die „Deutsche Eiche“ und den Viktualienmarkt, und es gibt Läden, die „Loden-Frau“ heißen oder „Loden-Frey“, und da kann man sich, mit oder ohne Senf oder Merkur am Kinn, eine prima Schafwollweste für den Winter kaufen, um sich darin einzuwickeln und sich zu wappnen gegen den Unbill kommender Fröste.

Packt man das schöne Kleidungsstück dann später zu Hause aus, findet man allerdings einen Wermutstropfen in Form eines Waschzettels, der vermuten läßt, er sei von der oben erwähnten Merkur-Autorin bzw. dem zitierten Merkur-Autor geschrieben worden: „Der Geiger-Stil hat viele Gesichter: City-chic oder abendlich elegant, in romantischen Landhaus-Ensembles oder sportiv für die Freizeit. Mit abwechslungsreichen Mode-Ideen in Strick und Walk.“

Moderner, deutscher, aber auch postmoderner kann europäisches Denken kaum formuliert, ja gedacht werden; hier gehen die Firmen „Geiger“ und Merkur eine Fusion ein, wie man sie den Emphatikern des Ist-Zustands nicht schöner an den Hals wünschen kann.

Aber die Schäfchenweste ist wirklich schön warm. Wiglaf Droste

„Merkur“ 594/595: Postmoderne. Eine Bilanz. Klett-Cotta. Stuttgart 1998, 250 Seiten, 30 DM,

Geiger Collections, Fiecht Au 15, Postfach 130, A-6130 Vomp