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: Das späte Gefühl der Sättigung

■ Letztinstanzliche Freisprüche fürs Alter: Was kann man tun, wenn man nichts mehr tun kann? Antworten, Klagegesänge und Ratschläge für den letzten Akt von Cicero bis Tilman Spengler

Das Alter erwischt uns alle. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Manche lernen dann leiden ohne zu klagen, andere klagen ohne zu leiden. Der Erzähler in Tilman Spenglers ebenso komischen wie klugem Buch über echte und eingebildete Leiden maskulinen Alterns („Wenn Männer sich verheben“) lernt beides. Er erwacht eines Morgens mit rasenden Rückenschmerzen. „Auf dem Weg zum Telefon war ich eindeutig im Krabbelalter. Vielleicht auch in einer frühen Phase der Evolution, irgendwann zwischen Schildkröte und Lurch. Für den Hausarzt lautete dagegen die Zeitbestimmung: ,Männer in ihrem Alter‘, ein Ausdruck, der mich wie mit der Pinzette in eine Sammlung einfügte.“ Für den Erzähler beginnt nun ein Leidensweg durch alle Jammerinstanzen. Klagen hilft aber wenig. Und verklagen läßt sich das Älterwerden schon gar nicht.

Oder vielleicht doch? Und läßt es sich sogar verteidigen? In seiner Schrift „Über das Alter“ hat Cicero jedenfalls das Alter wie einen Angeklagten verteidigt, gegen den vier Missetaten geltend gemacht werden: Untätigkeit nämlich, Kräfteschwund, Verlust der Lebensfreude und Todesnähe. Und da Cicero ein glänzender Jurist und Rhetoriker war, läuft sein Plädoyer auf Freispruch hinaus. „Das Alter“, heißt es zum Schluß, „ist gleichsam der letzte Akt eines Theaterstücks, bei dem wir das Gefühl von Überdruß vermeiden müssen, zumal wenn ein Gefühl der Sättigung mit ihm verbunden ist.“

Das Ehepaar Tiegel aus Kurt Kusenbergs Erzählung „Im falschen Zug“ hat Cicero offenbar nicht gelesen, denn „beide hoch in den Siebzigern, warteten auf ihren Tod. Frau Tiegel hatte entdeckt, wie bittersüß es sei, sich von der Welt abzukehren und immerfort ans eigene Ende zu denken – ans Leichenhemd, ans Begräbnis, an den ewigen Schlummer. Auch Herr Tiegel spann sich in solche Gedanken ein.“ Natürlich ist der Tod auch hier unvermeidbar, aber erst einmal kommt alles ganz anders – wie so häufig in den ungewöhnlich einfallsreichen, eleganten und präzisen Erzählungen Kusenbergs, in denen es übrigens öfter ums Älterwerden geht. Unter dem Titel „Zwist unter Zauberern“ ist eine Art Best-Of-Band Kusenbergs erschienen; in seinem Vorwort bemerkt Peter Rühmkorf treffend, daß Kusenbergs sehr modern wirkende Geschichten im Gegensatz zu ihren minimalistischen Formaten keineswegs klein gedacht sind, „und sie harmlos zu nennen, kann nur der Ahnungslosigkeit vom Dienst einfallen“.

Eher boden- als harmlos ist auch der Roman „Flammende Heide“ des irischen Autors Colm Tóibin; vom Kolportagegeruch des Titels lasse man sich nicht schrecken. Einen erfolgreichen Richter auf der Schwelle zum Alter zieht es immer öfter an den Ort seiner Kindheit zurück. Seine Rückschau ist allerdings nicht nostalgisch, sondern löst in ihm ein Bewußtsein davon aus, daß die anscheinend festen Wertvorstellungen von Recht und Unrecht, auf die er seine Karriere gebaut hat, ins Wanken geraten. Das Buch hat zwar elegische Züge, bleibt aber ganz und gar unsentimental und bringt nebenbei das Kunststück fertig, aus der Geschichte einer Ehekrise eine unpeinlich-rührende Liebesgeschichte zu machen.

Den letzten Tag im Leben des pensionierten britischen Kolonialbeamten Smalley nutzt der englische Romancier Paul Scott in seinem Roman „Nachspiel“ zu einer kritischen Bestandsaufnahme englischer Herrschaft in Indien. Es handelt sich um eine sehr britische Gesellschaftssatire, komisch, bissig und makaber zugleich. Und mit dem alten Griesgram Smalley hat Scott eine literarische Figur geschaffen, deren Reiz darin besteht, daß sie im Alter partout nicht weise werden will, sondern sich krampfhaft an längst vergangene Größe und Macht klammert.

Goethe war dreiundsiebzig und schon ziemlich altersweise, als er in Marienbad der neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow begegnete und sich so heftig in sie verliebte, als sei noch einmal der Geist Werthers in ihn gefahren. Über das, was da im einzelnen vorgefallen oder eben auch nicht vorgefallen ist, hat Goethe sich ausgeschwiegen; selbst die Tagebücher verlieren kein Wort über die merkwürdige Altersromanze. Der zu Lebzeiten sehr erfolgreiche, heute schon fast vergessene Unterhaltungsschriftsteller Joachim Fernau (1909–1988) hat in seinem unpathetisch-schlanken Roman „War es schön in Marienbad“ Goethe eine Art Geheimtagebuch untergeschoben, in dem der unglücklich verliebte Greis sein Herz ausschütten darf: „Ich habe geglaubt“, heißt es da einmal, „die Jugend würde mir noch einmal die Hand reichen. Ich habe gebettelt um Liebe.“ Klaus Modick

Cicero: „De senectute. Über das Alter“. Reclam Universal-Bibliothek

Joachim Fernau: „War es schön in Marienbad“. Ullstein TB

Kurt Kusenberg: „Zwist unter Zauberern“. rororo

Tilman Spengler: „Wenn Männer sich verheben“. rororo

Paul Scott: „Nachspiel“. btb

Colm Tóibin: „Flammende Heide“. rororo