Infrasounds: Schmuckstraße

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hat es in Hamburg eine chinesische Community gegeben. Das bemerkenswerte daran ist, daß es eine ganz unbekannte Geschichte eines unbekannten Viertels ist. Die kleine Community, die längst nicht so groß war wie die Chinatowns in anderen Städten, existierte bis 1944.

Gegen Ende des Krieges waren bereits viele Chinesen ins Exil gegangen, sie kooperierten angeblich auch mit den Engländern, und dann hörte die Geschichte der Chinesen in St. Pauli schlagartig auf. Es gab einen Einsatzbefehl an die Gestapo, und am 16. Mai 1944 kam die deutsche Geheimpolizei morgens in aller Frühe – wie das so ihre Art war –, verhaftete die letzten 150 Chinesen in der Schmuckstraße und brachte sie in ein Konzentrationslager im Süden Hamburgs. Dort, im Arbeitslager „Langer Morgen“, verlieren sich die letzten Spuren. Man sagt, daß nach der Befreiung von den geschätzten 2000 Chinesen noch ungefähr 20 dort gewesen sind, die dann nach China zurückgingen.

Einen Monat nach dieser Deportation ist Hamburg schwer zerstört worden. Die rechte Hälfte der Schmuckstraße existiert seitdem nicht mehr. Heute befindet sich in St. Pauli an dieser Stelle ein Grünstreifen, wo sich wiederum Entwurzelte wie Drogenabhängige aufhalten. Chinatown wurde vollständig vernichtet: Nicht nur die Menschen wurden vertrieben und ermordet, auch der Ort wurde vollständig zerstört. Radikaler kann man Geschichte nicht ausradieren.

Es hat lange gedauert, bis man sich wieder Fragen gestellt hat und neugierig wurde. Plötzlich kommen sehr viele Informationen, die man vorher nicht hatte. Ich bin z.B. in meiner Generation mit der Erfahrung aufgewachsen, daß die Nazi-Zeit in Deutschland in jenen „dunklen“ Jahren schwarzweiß gewesen ist: In allen Lehrbüchern und Zeitungen war die ganze schlimme Zeit nur in schwarzweiß abgebildet – ob das Hitler war, ob das Auschwitz war oder die jubelnden Massen.

Seit kurzem bemerkt man plötzlich, daß es damals sehr viel Farbmaterial gegeben hat. Technisch war das ja möglich, sowohl bei den Fotografien als auch beim Film. Und dadurch entsteht ein ganz anderes Bild: Etwa ein ganz übliches Familienleben von gar nicht schuldig aussehenden Menschen mit einer wunderschönen Natur unter blauem Himmel und gleichzeitig Braunhemden und SS. Mitten im Weltkrieg haben Leute „Freizeit gemacht“, ein scheinbar ganz intaktes Leben geführt. Diese Subjektivität zeigt sich in der Farbe, und genau diese Subjektivität erinnern viele Menschen von früher.

Das ist die interessante Geschichte: wie über das visuelle Material, über das Medium der Erinnerung, die Bewertung der Geschichte gesteuert wird. Man fällt nicht unbedingt andere Urteile. Aber die Geschichte wird sehr viel konkreter, differenzierter, näher und auch entsetzlicher. Insofern eröffnet ein subjektiver Dialog mit der Vergangenheit auch tatsächlich einen besseren und ehrlicheren Zugang. Dieses Chinatown, denke ich, sollten wir uns auch in Farbe vergegenwärtigen.

Chen Zhen/ Michael Batz