Jenseits des Status quo

Die 9. Lesbisch-Schwulen Filmtage Hamburg bieten ein Forum, um sexuelle und andere Identitäten zu debattieren  ■ Von Christian Buß

Erste Erfahrung, späte Erkenntnis, Revision liebgewonnener Gewohnheiten – so ein Coming Out kann ganz unterschiedlich vonstatten gehen. Craig ist kaum 20 und verdient sein Geld, indem er sich beim Kickboxen in den Hinterhöfen von Blackpool die Fresse polieren läßt. Nach einem One-Night-Stand mit dem Techno-Produzenten Matt reißt er aus nach London. Der Engländer Paul Orenland geizt in seinem Like It Is nicht mit grellen Schauwerten, doch zwischen Boygroup-Videos, Koksorgien und dem Who-Sänger Roger Daltrey als zynischem Plattenfirmenboß entwickelt er einige durchaus subtile Szenen. Sehr laut ist dieser Film und trotzdem nicht plakativ.

Noch ein Coming Out: Syd teilt sich mit ihrem Freund eine Wohnung in New York, eines Tages tropft es bei den beiden von der Decke. Die junge Fotoredakteurin, die ihre sexuellen Präferenzen schon lange für sich geklärt zu haben glaubt, klopft bei den Nachbarinnen an, und mit der undichten Stelle in der Wasserleitung tut sich ihr eine ganz neue Welt auf: Über ihr halten eine abgetakelte Fassbinder-Aktrice und eine ehemalige Starfotografin Hof für einen Haufen dekadenter Wannabes. Lisa Cholodonko setzt für ihr High Art das Coming Out im Manhattan Style in Szene: Syd verliebt sich in die Fotografin und gerät in eine Beziehung, in der geschäftliche Transaktionen und Wahrhaftigkeiten nur äußerst schwer voneinander zu trennen sind.

Irgendwie auch ein Coming Out: Simon ist sich seiner Sexualität hundert Prozent sicher. Der jüdischen Tradition seiner Familie hat er schon lange den Rücken gekehrt, und mit seinem Schwulsein geht er dermaßen demonstrativ um, daß er seinem Cousin ausgerechnet bei dessen Hochzeit seine Liebe gesteht. Doch Simon soll selbst unter die Haube, denn der notorisch abgebrannte Kezmer-Klarinettist erhält nur dann Verfügungsgewalt über das Vermögen seines Onkels, wenn er heiratet. Und zwar eine Jüdin. Also schmeißt sich der niemals verlegene Musiker an Rosalie ran, eine Tochter aus orthodoxem Elternhaus. Die Hochzeitsnacht eröffnet beiden Parteien überraschende Erkentnisse. Jean-Jacques Zilbermanns L'Homme est une Femme comme les Autres strotzt vor trockenem Humor, trotzdem (oder gerade deshalb) legt er komplexe sexuelle Dynamiken frei. Schwules Begehren, weibliche Lust – die gegenseitige Bespiegelung birgt enormes Erkenntnis-Potential. Und das jüdische Umfeld sorgt für eine schillernde Kulisse: Wie ein sexuell umgestülpter Woody Allen stolpert der Held hier durch seine Neurosen – und entdeckt, daß unter den düsteren schwarzen Kaftanen so mancher knackiger Männerkörper schlummert.

L'Homme est une Femme comme les Autres ist zweifellos einer der Höhepunkte der 9. Lesbisch-Schwulen Filmtage Hamburg, und er steht vielleicht auch exemplarisch für die undogmatische Gestaltung der Kinoschau, die von heute abend bis zum Sonntag geht. Immer wieder wird ja von Seiten der Veranstalter betont, daß nicht nur explizit schwule oder lesbische Sujets Eingang ins Programm finden sollen. Etikettenschwindel kann ihnen trotzdem nicht vorgeworfen werden: Die Erfahrungswelt ungenormter Lust eröffnet hier ein optimales Forum, um Identitäten zu debattieren – sexuelle und andere. Das geht von lesbischer und schwuler Seite oft leichter, weil hier zwangsweise nicht immer nach dem Status quo geschielt wird.

Auch im Hetero-Land ist nicht alles so klar, wie es im Aufklärungsunterricht vermittelt wird. Zumindest die aufgekratzten Thirtysomethings in P.J. Castellanetas irgendwie atemloser Komödie Relax... It's Just Sex – die wie High Art auch schon erfolgreich auf dem letzten Filmfest lief – rätseln sich hier durch ihr Liebesleben. Wer will was, und warum sollte man das überhaupt wollen?

Solche Fragen gehen den drei Figuren aus Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan ab, die leben nämlich in einem einigermaßen realitätsfreien Raum ihre menage à trois. Ausgeklügelt wurde diese experimentelle Versuchsanordnung mit einem Mann und zwei Frauen von Rudolf Thome, dem um Utopien niemals verlegenen alten Mann des, nun ja, WG-Films. Sein auf anderen Festivals leicht verwundert aufgenommenes Werk wirkt vielleicht ein bißchen wie aus einer anderen Zeit, aber es sollten auch nicht alle Entwürfe aus anderen Zeiten – zum Beispiel 1968 – in Bausch und Bogen verdammt werden.

In Bausch und Bogen – apropos – wird von den Machern der Lesbisch-Schwulen Filmtag sowieso nichts verdammt. Und es ist erstaunlich, wie hier nicht immer amüsantes Identitäts-Scouting mit dem oftmals bösartigen Humor der Camp-Fraktion Hand in Hand geht. Vom Programmheft starrt uns die schreckliche Fratze der Elizabeth Flickenschild an. Die Abonnentin auf Edgar-Wallace-Verfilmungen, in der einschlägige Kreise eine verhinderte Tragödin vom Format einer Joan Crawford ausmachen wollen, spielt auch in Wolfgang Schleifs Eheinstitut Aurora aus dem Jahr 1961 mit, der während einer kleinen Camp-Reihe gezeigt wird.

Humor muß also reichlich mitbringen, wer die gut drei Dutzend Programmpunkte der Lesbisch-schwulen Filmtage durchforstet. Viel Gaudi verspricht auch diesmal der Kampf um die begehrte Trophäe mit Namen Ursula, die nach Abstimmung des Publikums an „Unseren reizvollsten schwulen oder lesbischen Amateurfilm“ geht. Doch, das sei angemerkt, zwischen all die nicht eben wohltemperierten Schenkelklopfer schleicht sich auch das eine oder andere Sentiment, die eine oder andere bedeutende Sequenz ein. Sie wissen ja: Wer sucht, der findet.

Die Programme der 9. Lesbisch-Schwulen Filmtage Hamburg laufen bis Sonntag abend im Cinema und Metropolis. Die feierliche Eröffnung erfolgt heute abend (20 Uhr) mit einer Sammlung von Kurzfilmen im Metropolis. Weitere Infos unter Tel.: 34 80 670.