Das Wintersemester hat begonnen, viele Studienwillige jedoch müssen sich gedulden – oder klagen. Der Zugang zur Hochschule wird mit dem Wechsel in Bonn leichter. Aber auch Rot-Grün wird bei der Studienplatzvergabe auf Abiturnote und Eignungstests setzen Von Silke van Dyk

Der Zeitgeist verlangt nach Auslese

Sie schreiben körbeweise Briefe. Sie nehmen an Verlosungen teil. Sie ziehen vors Verwaltungsgericht. Sie fangen eine Lehre an, oder sie sammeln einfach Wartesemester. Was diese Leute gemeinsam haben? Sie wollen einen Studienplatz. Aber anders als für die 230.000 StudienanfängerInnen dieses Wintersemesters ist für sie kein Platz an den Hochschulen. In Zeiten, da die für knapp eine Million Studierende konzipierten Hochschulen mit 1,8 Millionen hoffnungslos überfüllt sind, hält sich das Interesse an den Abgewiesenen in Grenzen. Die Bibliotheken sind schlecht ausgestattet, die Seminare übervoll und Massenabfertigungen bei ProfessorInnen an der Tagesordnung. Für viele scheint da die Reduzierung der Studienplätze eine verlockende Lösung zu sein.

Das Problem ist nicht neu. Schon 1973 wurde eine zentrale Regelungsinstanz zur Vergabe von Studienplätzen (ZVS) eingerichtet, um den Ansturm auf die Hochschulen zu bewältigen. Ein aufwendiges Bewerbungsverfahren berücksichtigt seitdem neben der Abiturnote (Numerus clausus) auch soziale Kriterien und Wartesemester, um das knappe Gut fair zu verteilen. Zusätzlich gibt es lokale Notenhürden.

An der Hamburger Uni müssen angehende StudentInnen für nahezu jedes Studienfach einen vor Ort festgesetzten Mindestnotendurchschnitt vorlegen. Zusätzlich sind völlig neue Auslesemethoden geplant. In Auswahlgesprächen und Tests sollen die potentiellen Studierenden auf ihre Eignung für das Hochschulstudium abgeklopft werden. „Wir müssen Studierende und Universitäten möglichst optimal aufeinander abstimmen. Und das geht am besten durch Auswahlgespräche“, kritisiert Klaus Landfried, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz die zentrale Vergabe durch die ZVS. Die Leistungsunterschiede zwischen den Studierenden seien einfach zu groß: „Da muß vor Studienbeginn geschaut werden, wer die notwendigen Fähigkeiten mitbringt.“

Freerk Huisken, Professor für politische Ökonomie des Ausbildungssektors an der Uni Bremen, entdeckt hingegen in den geplanten Eignungstests die Neuauflage eines alten „Begabungsrassismus“. Huisken: „Wenn mehr Studierende da sind, als der Markt braucht, dann gilt plötzlich, daß es so viele Begabte gar nicht geben könne, wie sich Studierende an den Unis tummeln. In den 60er Jahren, als mehr Studierende gebraucht wurden, hieß es, Begabung käme von ,begaben‘, sei also ein Produkt von Erziehung und Lernen und somit auch ein Produkt der Universität.“ Begründungen für bildungspolitische Entscheidungen also je nach Zeitgeist?

Der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BDWI) sieht im individuellen Auslesegespräch einen substantiellen Abbau des Rechts auf Bildung. „Das Abitur, die sogenannte allgemeine Hochschulreife, schafft dann nur noch eine formale Berechtigung, sich bewerben zu dürfen – Ergebnis offen“, kritisiert Thorsten Bultmann vom BDWI. Er weigert sich, die Eignungsprüfungen als adäquaten Ersatz für die ZVS zu akzeptieren. Diese habe nämlich den Hochschulzugang bei knapper Studienplatzzahl sichern wollen. Die individuellen Vorabgespräche bezwecken Bultmann zufolge das Gegenteil: die Abschaffung von Chancengleichheit.

So rückt die ZVS zunehmend ins Zentrum der Debatte. Anfangs war es einzig die FDP, die gegen das klassische Beispiel sozialdemokratischer Mängelverwaltung opponierte. Doch die Zeit spielt für die liberalen Deregulierer. Klaus Landfried sieht in der ZVS inzwischen gar eine nahezu sozialistische Institution: „Wir werden uns von ihr verabschieden müssen, wenn sie so unflexibel bleibt.“

Für die VerfechterInnen des offenen Hochschulzugangs eine schwierige Situation. Da Schlimmeres droht, werden sie schnell zu HüterInnen der notenorientierten Studienplatzvergabe der ZVS, obwohl sie diese von ihrer grundsätzlichen Kritik am Bildungssystem keineswegs ausnehmen. Wer sich über neue und härtere Formen der Zugangsbeschränkung aufrege, so Huisken, habe zwar allen Grund dafür, dürfe aber nicht vergessen, daß das ganze Schulwesen durch das Zensurensystem eine bewußt organisierte Zugangsbeschränkung sei. „Es geht in unserem Bildungswesen nun einmal nicht um optimale Bildung der einzelnen. Deren Ausbildung nimmt allein Maß an dem, was Wirtschaft und Staat nachfragen.“

KritikerInnen wie Huisken finden jedoch in der aktuellen Bildungsdebatte wenig Gehör. So wurde die im Juni vom Bundestag beschlossene Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) mit einer Auswahlklausel versehen. 20 Prozent der BewerberInnen bei ZVS-Fächern sollen durch Auswahlgespräche vor Ort ausgesucht werden. Bereits seit Mai 1997 haben Hochschulen in Baden-Württemberg die Möglichkeit, im Rahmen örtlicher NC-Verfahren 4 von 10 Studienplätzen durch Eignungstests zu vergeben. Ab 1999 soll das Ganze verpflichtend sein.

Schon heute wird die individuelle Auslese in Heidelberg bei AnfängerInnen in den Fächern Biologie, Psychologie und Sport praktiziert. Manfred Amelang vom Psychologischen Institut ist begeistert, da so die Chancenvielfalt vervielfacht werde. „Die Studierenden sind wesentlich engagierter, die Erfolgsgrade im Studium besser“, meint Amelang. Ulrike Gonzales, Sprecherin des studentischen Dachverbandes fzs, kann das nicht überzeugen. Sie hält es für eine Anmaßung, daß Professoren in wenigen Minuten entscheiden wollen, ob sich jemand für ein Studienfach eignet oder nicht. Außerdem befürchtet sie eine reine Männerwirtschaft: „Bei gerade 7 Prozent Professorinnen bestimmen also in Zukunft fast nur Männer darüber, wer an den Unis studieren darf.“

Subtiler als die direkten Zugangsbeschränkungen wirken ökonomische Zwänge und Ängste beim Hochschulzugang. Der Anteil von Studierenden aus sozial schwächeren Schichten an den Unis ist in den letzten Jahren laut einer Erhebung des Deutschen Studentenwerkes von 28 Prozent (1982) auf 14 Prozent (1997) gesunken. Die drastisch abnehmende Wahrscheinlichkeit, eine Studienförderung zu erhalten, spielt hier eine entscheidende Rolle. Zudem muß seit 1990 das Bafög nach Studienende zur Hälfte zurückgezahlt werden, was in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit abschreckt. Viele AbiturientInnen aus weniger begüterten Verhältnissen dringen also nicht einmal bis zur Bewerbung vor. Nichts anderes beabsichtigt die von der alten Bundesregierung als Option vorbehaltene Einführung von 1.000 Mark Studiengebühren pro Semester. „Daraus kann man nur schließen“, so Freerk Huisken, „daß das Bildungssystem seinen Klassencharakter noch nicht verloren hat.“

Der Zugang zur Hochschule wird mit dem Regierungswechsel leichter – teilweise. SPD und Grüne haben schon zugesagt, Studiengebühren im Hochschulrahmengesetz zu verbieten. Auch grundlegende Reformen in der Hochschulfinanzierung und eine Bafög-Reform sind zu erwarten. Schlechter sieht es bei den Hochschulzugangsbedingungen aus. Sowohl SPD als auch Grüne haben bereits verlauten lassen, daß an der 20-Prozent-Klausel für Auswahlgespräche im HRG nicht gerüttelt wird. Auch Rot-Grün wird auf Notendurchschnitt und Eignungstest als Hürde zum Studienbeginn setzen. Für die Aussortierten öffnen also weiterhin das Losglück, die Verwaltungsrichterin oder die als Wartezeit verstreichenden Monate das Tor zur Hochschule. Allein die bereits totgesagte ZVS dürfte unter SPD-Regie ein wenig länger leben, als es vielen lieb ist.